Das Velociped erobert Hamburgs Ballsäle
Von Birte Hoffmann-Cabenda und Eva Zöllner
Man stelle sich vor, ein Ballettmeister der Hamburgischen Staatsoper würde heute eine Choreographie für die Mitglieder eines Fahrradclubs erarbeiten und Tänzerinnen des Balletts auf offener Bühne Kunststücke auf dem Rad zeigen. Heute wäre diese Verknüpfung der Ballettkunst mit dem Fahrrad sicherlich undenkbar – aber genau diese exotische Verbindung gingen Tanz und Radsport 1869 in Hamburg ein.
Das
Jahr 1869 markiert einen großen Sprung in der Entwicklung und
Verbreitung des Fahrrades, das damals als Velociped bezeichnet wurde:
In allen Zeitungen wurde dieses neu aufkommende Fortbewegungsmittel
kommentiert und erklärt, Anekdoten dazu verbreitet und über
spektakuläre Fahrrad-Unfälle berichtet – das Thema »Velociped«
war in aller Munde. Doch hatte man die neue Art der Fortbewegung, die
es ermöglichte, nicht eindeutig einsortiert: Handelte es sich um
eine Art Reiten, einen Sport? Oder hatte es gar etwas mit Tanz zu
tun? Das Wiener Fremden-Blatt
orakelte schon im Januar 1869in
einem Bericht über die laufende Ballsaison:
»In unserer Zeit ist alles möglich. … Wer bürgt nicht dafür, daß wir demnächst nicht einen Velocipedenball angekündigt sehen. In einem Velocipeden-Galopp kann sich der Triumph der Tanzkunst gipfeln.«
Die Geschwindigkeit des Velociped-Fahrens und seine Verwandtschaft zum Reiten animierte 1869 tatsächlich zahllose Musiker wie zum Beispiel Hans Christian Lumbye (1810–1874) oder auch Josef Strauss (1827–1870), einen Bruder des Walzerkönigs Johann Strauss (Sohn) dazu, einen Velocipeden-Galopp zu komponieren. Auch für andere der üblichen Tanzformen wie Walzer, Polka, Schottisch oder Quadrillen gab es Stücke »à la Vélocipède«.
Während es sich bei diesen Werken um konventionelle Tanzmusik handelte, die von der Mode des Velocipeds lediglich inspiriert war, konnte man im Hamburg im April 1869 Tänze sehen, bei deren Ausführung echte Fahrräder zum Einsatz kamen: In »Sagebiel’s Etablissement«, einem Vergnügungskomplex mit mehreren großen Sälen an der Großen Drehbahn, das nach seiner Erweiterung in den 1880er Jahren sogar bis zu 10.000 Menschen zu fassen vermochte, wurden dem sensationshungrigen Hamburger Publikum Choreographien mit Velocipeden dargeboten. Die Hamburger Nachrichten vermeldeten:
»Das
Velocipedenfahren, welches am Donnerstag und Freitag-Abend in dem
besonders dazu geeigneten großen Saal des Sagebiel’schen
Etablissements abgehalten wurde, hatte eine große Menschenmenge dort
versammelt. Viele der fahrenden Herren bewiesen eine außerordentliche
Gewandtheit in der Führung dieses neuen Beförderungsmittels. So
wurde unter Leitung des Herrn Balletmeisters A. Knoll mit großer
Sicherheit eine Quadrille aufgeführt, welche lebhaften Beifall beim
Publicum fand.«[1]
Ob sich diese Quadrille eher an der getanzten Quadrille – meist einem Vierpaartanz, also einem Gruppentanz für 8 Personen – orientierte, oder ob das Vorbild beim Quadrille-Reiten zu suchen ist, kann man nur vermuten. Für ersteres spricht allerdings, dass mit dem genannten A.[lbert] Knoll (1832–1910) ein erfahrener Ballettmeister und Tanzlehrer die Aufführung leitete. Kurze Zeit später zeigten 8 Tänzerinnen aus dem Ballettcorps des Stadttheaters bei Sagebiel ihre Fahrkünste:
»Vorgestern
Abend fand in Sagebiel’s großem Saale wieder ein Velocipedenlaufen
von 8 Balletdamen des Stadt-Theaters statt, die wohl zum größten
Theil eine außergewöhnliche Gewandtheit in der Führung des
Schnelligkeits-Triebwerks, als auch eine bewundernswerthe Ausdauer im
Fahren zeigten. Ihre kühnen und schnellen Wendungen in verschiedenen
Touren riefen wiederholt lebhaften Beifall hervor, wie überhaupt das
neue Schauspiel in seiner gefälligen Anordnung den Zuschauern
ersichtlich großes Vergnügen machte.«[2]
Großer
Festsaal und Marmorsaal in Sagebiel’s Etablissement nach dem Umbau
1883
In der Wahrnehmung des Ballettmeisters Albert Knoll, der vermutlich auch für diese Choreographie verantwortlich zeichnete, war Ballett keine elitäre Hochkultur – das hätte weder in seine Zeit noch zu seiner Biographie gepasst: Knoll hatte seine Ausbildung als Eleve am Breslauer Stadttheater erhalten und tanzte später als Solist auf derselben Bühne, nachdem er eine Zeitlang mit einer Wandertruppe von Akrobaten und Tänzern durch die Welt gezogen war. 1858 wurde er als Solotänzer und Ballettmeister am Hamburger Stadttheater engagiert, dem an gleicher Stelle gelegenen Vorläufer der heutigen Staatsoper. Doch ein reines Ballett-Engagement allein konnte in jener Zeit zum sicheren Lebensunterhalt nicht genügen. Man musste flexibel sein: In seiner Hamburger Zeit als angesehener Ballettmeister und Choreograph bediente er nicht nur die Theaterbühnen, sondern gründete und leitete ein »Tanz- und Anstandsinstitut«, in denen die Hamburger ihren gesellschaftlichen und tänzerischen Schliff bekamen, und versorgte auch die großen Zirkusunternehmen der Zeit wie Circus Busch und Renz mit Choreographien für die damals so beliebten Pantomimen. Eine Novität wie die einer echten »Velociped«-Quadrille passte daher durchaus in sein Portfolio. Aber was bewog das Ensemble des Stadttheaters, an einem derart abenteuerlichen Unternehmen teilzunehmen?
Albert Knoll
In den 1860er Jahren litt das Stadttheater unter ständiger Geldnot, da es von der Stadt nicht subventioniert wurde. Zu den wenigen »sicheren« Stücken im Spielplan zählten die von Knoll mitgestalteten, opulent ausgestatteten Weihnachtsmärchen, die keinesfalls nur zur Unterhaltung der Kinder dienten, sondern auch Erwachsene in Scharen in die Vorstellungen zogen. Mit Sneewittchen und die 7 Zwerge war Knoll im Dezember 1868 ein besonderer Wurf gelungen:
Die weihnachtliche Komödie war derart beliebt, dass sie sich zum Zeitpunkt der Velociped-Vorführungen bei Sagebiels immer noch im Spielplan hielt; bis zum Mai 1869 wurden Vorstellungen gegeben. Doch selbst große Erfolge wie der des Sneewittchen konnten den sich schon länger abzeichnenden finanziellen Niedergang des Stadttheaters nicht abwenden. Anfang Mai 1869 spitzten sich die Ereignisse endgültig zu: Da die Gagen über Monate nicht vollständig ausgezahlt worden waren, trat das Bühnenpersonal in den Streik, Direktor J. C. Reichardt musste seinen Hut nehmen. Bis zum Spielzeitende hielten die Mitglieder des Theaters den Betrieb in Eigenregie und mit Erlaubnis des Senats für eigene Rechnung aufrecht.[3] Sicher war es nicht zuletzt ihre akute finanzielle Notlage, die die Tänzerinnen dazu bewog, nach anderen Verdienstmöglichkeiten Ausschau zu halten und sich aufs »Velociped« zu schwingen.
Dass Knoll und die Damen des Balletts mit ihren Velociped-Quadrillen vollkommen im Trend lagen, zeigt die Vielzahl der entsprechend gestalteten Programme, mit denen die Betreiber der Hamburger Konzert- und Unterhaltungsbetriebe in der Folgezeit aufwarteten: Der gegenüber dem Stadttheater gelegene Apollo-Saal lockte mit Velocipeden-Bällen, bei denen (angeblich) »sämtliche Damen des Balletts« ihr akrobatisches Können und ihre weißbestrumpften Beine auf dem Fahrrad zeigten; ein optischer Leckerbissen, den Lüders’ Salon am Schulterblatt (ansonsten eher bekannt für schlichtere Vergnügungen wie Feuerwerk, Militärkonzerte, Kegelbahn und Billard) ungewohnt mutig mit den »unübertrefflichen Leistungen eines Indianers-Häuptlings« auf dem Velociped konterte.
Auch wenn der »wilde Mr. Jonathan« nichts mehr als ein ungewöhnlich exotischer »Teaser« (und eine reine Werbeerfindung) gewesen sein dürfte, ist deutlich, dass die Prophezeiung des Fremden-Blatts in Erfüllung gegangen war: Das tanz- und sensationsbegeisterte Hamburger Publikum stand jenem in New York, London, Wien, Paris und anderen Metropolen in seiner Fahrradbegeisterung in nichts nach: 1869 waren die angesagten Velocipeden-Bälle in der Hansestadt ein Muss!
Anmerkungen:
[1] Hamburger Nachrichten, Hamburg 11.4.1869, No. 86, Seite 4.
[2] Hamburger
Nachrichten, Hamburg 24.4.1869, No. 97, Seite 9 .
[3] Uhde, Hermann: Das Stadttheater in Hamburg 1827 – 1877, Stuttgart 1879.
Abbildungen:
gallica.bnf.fr / BnF
Ansichtskarte, 1913 gelaufen (Privatsammlung)
Carl Krüger, Menuett-Walzer op. 16, Titelblatt (Ausschnitt), Hamburg, Leichssenring 1894
Anzeigen aus Hamburger Nachrichten 10. September 1869, 28. November 1869, 5. Dezember 1869 (theeuropeanlibrary.org)