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Der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 – ältester Bicycle-Club der Welt

Im Jahr 1869 waren „Velozipede“ in den Metropolen Europas der letzte Schrei – und auch in Hamburg und Umgebung blieb dies nicht ohne Folgen. Am 17. April 1869 gründeten 20 Herren den „Eimsbüttler Velocipeden-Reit-Club“ (EVRC), der mit der seinerzeit unbedeutenden Landgemeinde Eimsbüttel jedoch recht wenig zu tun hatte; die Hamburger und die Altonaer Mitglieder konnten sich schlicht auf keinen anderen Namen einigen und wählten schließlich diesen Kompromiss.

Die Mitglieder, zu denen denen die Gebrüder Schlüter, Maschinen- und Velozipedenfabrikanten aus Pinneberg gehörten, fuhren oder „ritten“, wie man damals zu sagen pflegte, auf den sehr schweren und unhandlichen Tretkurbelvelozipeden, für die sich der vielsagende Begriff „Knochenschüttler“ einbürgerte. Die Velozipedenreiter versuchten für die Akzeptanz des prestigeträchtigen und teuren Pioniersports zu werben und fuhren im Saal, auf der Straße und bei Rennen. Das Veloziped kam jedoch schnell wieder aus der Mode. Die Gründe dafür waren öffentliche Fahrverbote, unbefestigte Straßen, ruinierte Fußböden in den Übungslokalen und die sich in Europa ausbreitenden Rollschuhbahnen. Die Aktivitäten des Vereins schliefen zudem ein, als einige Mitglieder nach dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 zum Militär eingezogen wurden.

Anfang der 1880er Jahre setzte eine neue Phase ein. Der „Reit-Club“ änderte 1881 seinen Namen in „Altonaer Bicycle-Club von 1869/80“ (ABC) und gab sich den prestigeträchtigen Zusatz „aeltester Bicycle-Club der Welt“. Die Umbenennung wurde rückwirkend vollzogen, da man die „80“ aus grafischen Gründen bevorzugte. In dieser Zeit waren bereits Hochräder modern, die wegen der zumeist englischen Herkunft auch „Bicycles“ genannt wurden und die deutlich sportlicher und schneller als die vorherigen Velozipede waren.

Der ABC pflegte in jenen Jahren einen bürgerlich-elitären Habitus und prüfte neue Mitglieder dementsprechend vor der Aufnahme in den Verein. Zahlreiche Radfahrfesten dienten zur Selbstdarstellung des Vereins und verfolgten oftmals karitative Zwecke. Einige Feierlichkeiten wie das 25-jährige Jubiläum des ABC im April 1894 gerieten zu gesellschaftlichen Großereignissen, über die die lokale Presse ausführlich berichtete.
Zum Programm dieser Veranstaltungen gehörten Kunst- und Reigenfahren, Darbietungen internationaler Kunstradmeister, Gesangseinlagen und Theateraufführungen.

Rad gefahren wurde im ABC aber natürlich auch. Auf Tourenfahrten beispielsweise von Hamburg nach Berlin demonstrierten die Fahrer öffentlichkeitswirksam ihre Ausdauer und die Leistungsfähigkeit der „Bicycles“. 1885 beteiligte sich der ABC am Bau der Radrennbahn am Grindelberg in der Hamburger Innenstadt. Dort wurden nationale und internationale Rennen auf Hochrädern, Dreirädern, Niederrädern und später hinter motorengetriebenen Schrittmachermaschinen ausgetragen und weckten ein großes öffentliches Interesse, schließlich war der Radrennsport ausgesprochen populär um die Jahrhundertwende.

Der ABC – 1893/94 hatte der Verein über 100 Mitglieder, mehrheitlich Kaufleute – beobachtete die Entwicklung des Radsports zunehmend skeptisch. Das Wettfahren um Geldpreise und den Profisport lehnten die traditionsbewussten Altonaer Bicyclisten kategorisch ab und auch die zunehmende Kommerzialisierung des Radsports stieß auf Ablehnung.

Als sich um 1900 nahezu jeder ein Fahrrad leisten konnte und Arbeiter zunehmend auf dem Fahrrad für die Sozialdemokratie zu agitieren begannen, entwertete das den Sport aus bürgerlicher Sicht, auch für den ABC. Das Fahrrad avancierte zum Massenverkehrsmittel und verlor damit deutlich an Anziehungskraft für das Bürgertum, das sich nun zunehmend für motorisierte Fortbewegungsmittel interessierte.

Diese Entwicklung spiegelte sich auch im ABC wider, denn die Mitgliederzahlen sanken kontinuierlich.

Eine neue Ausrichtung sollte Abhilfe schaffen. Das Radwandern entwickelte sich zum neuen Schwerpunkt des Vereins. Hierfür setzte sich besonders der Lehrer und langjährige Vorsitzende Gregers Nissen (1867-1942) ein. Der „Prophet des Radwanderns“, wie Nissen aufgrund seiner unermüdlichen Aktivitäten getauft wurde, zog 1890 nach Altona und trat sofort in den renommierten ABC ein.
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Der Vorstand des ABC um 1890 (Quelle: Altonaer Museum)
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Ausfahrt in den frühen 1920er Jahren (Quelle: Stadtteilarchiv Ottensen)
Nissen schrieb zahlreiche Rad-Wanderführer, engagierte sich für den Radwegebau, war Wanderfahrwart im Deutschen Radfahrer-Verband und gab spezielle Kartenwerke für Radfahrer heraus.

In den 1920er Jahren erweiterte der ABC mit den Disziplinen Radball und Radpolo das radsportliche Spektrum. Bei der Auswahl seiner Mitglieder setzte der Verein weiterhin auf Exklusivität und war, was nicht verschwiegen werden darf, antisemitisch ausgerichtet, wie in der Vereinssatzung von 1925 deutlich wird: Es durften „nur unbescholtene Personen arischer Abstammung, die das 16. Lebensjahr erreicht haben“ in den ABC aufgenommen werden, dabei hatte der Verein in seiner Frühphase einige sehr engagierte jüdische Mitglieder gehabt. Im Jahr 1941 forderte die Gestapo den Verein auf, seinen Namen zu ändern und Mitgliederlisten und Satzungen einzureichen. Das NS-Regime stieß sich an dem englischen Begriff für Fahrrad und wollte feststellen, ob der Verein noch jüdische Mitglieder hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der ABC wieder Fahrt auf und betrieb nun hauptsächlich Radball und Kunstfahren. Einige Mitglieder wie das langjährige Team Erhard Stüber und Gerhard Oberwemmer feierten beachtliche nationale und internationale Erfolge im Radball. Die Nachwuchsprobleme für diese übungsintensive Disziplin konnten im Laufe der Zeit aber nicht kompensiert werden – das Vereinsleben geriet deshalb zunehmend schwieriger.
1996 konnte der Verein seine Gemeinnützigkeit nicht mehr nachweisen und wurde 2001 sogar aus dem Vereinsregister gelöscht.

Sollte dies das Ende des geschichsträchtigen Vereins sein?
Nein, denn im Spätsommer 2013 gründete ein Kreis von Radsportlern und fahrradhistorisch Interessierten den ABC wieder.

Neben den sportlichen Aktivitäten auf dem Rennrad und beim Radball widmet sich der Verein heute der Pflege und Restaurierung historischer Fahrräder und erforscht die clubeigene Geschichte wie auch die allgemeine Geschichte des Fahrrads und des Radsports.

Quellen und weiterführende Literatur:

Die Entstehung und Entwicklung des Altonaer-Bicycle-Clubs 1869/1880, Altona: Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, 1894; Oliver Leibbrand, Zur Geschichte des bürgerlichen Radsports im Deutschen Kaiserreich. Der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 – Aeltester Bicycle-Club der Welt, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 8 (2008), Heft 3, S. 79-105; ders., Auf dem Stahlross durch Altona/Ottensen. in: Ottensener Stadtteilarchiv (Hrsg.). Unterwegs in Ottensen, Hamburg-Altona 2010, S. 38-42.
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"Radpolodemonstration" vor dem Fußballspiel ALTONA 93 gegen VIKTORIA im Stadion Hoheluft 1920 (Quelle: Internationales Radsportarchiv Bad Münstereifel)
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Die ABC-Radballer Erhard Stüber und Gerhard Oberwemmer Ende der 1960er Jahre (Quelle: ABC-Jubiläumsbroschüre 1969)