Maurice
Leblanc, Nun wachsen uns Flügel. Amouröser Roman. Mit einem
Nachwort von Elmar Schenkel, Leipzig: Maxime Verlag Maxi Kuschera,
2015 (Velothek, Band 1), 160 Seiten, 19,95 EUR.
Von Lars Amenda
Um
1900 himmelten viele das Fahrrad an und verglichen das Radfahren mit
dem Fliegen. Da es noch keine Flugzeuge gab, konnte ja auch niemand
so genau sagen, wie es sich in der Luft und ohne Bodenkontakt so
anfühlte. Dem alten Menschheitstraum konnte der Mensch bis dahin
jedenfalls nicht näher kommen als eben auf dem Fahrrad. Die damalige
Werbung für Fahrräder strotzt denn auch nur so von Flügeln - und
oftmals leichtbekleideten Frauen.
In
die gleiche Kerbe schlägt auch der Roman „Nun wachsen uns Flügel“
(Voici des Ailes!) des französischen Schriftstellers Maurice
Leblanc (1864-1941). Der 1898 erschienene Roman - als “amourös”
gekennzeichnet - ist eine reiche literarische Quelle, welche nun
erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.
Die
Handlung spielt im Pariser Bürgertum des Fin de Siècle, jener so
fahrradverrückten und fortschrittsgläubigen Epoche und Metropole.
Die Hauptrolle spielen zwei befreundete Paare, Madeleine und
Guillaume d`Arjols, und Régine und Pascal Fauvières. Sie
beschließen eine Fahrradtour in die Normandie und in die Bretagne zu
unternehmen, um der geschäftigen Metropole eine Weile zu entkommen
und stattdessen die Natur und die Weite des Landes hautnah zu
erleben.
Der
Roman feiert die Freiheit der Liebe und die Ästhetik des Fahrrads.
Für Letzteres dient vor allem Pascal Fauvières als Sprachrohr: „Was
die Schönheit des Fahrrades ausmacht, ist seine aufrichtige
Offenheit. Es verbirgt nichts. Seine Bewegungen sind klar zu
erkennen, bei ihm sieht und begreift man die Kraftentfaltung, es gbit
seine Absicht bekannt, es sagt, dass es sich schnell, geräuschlos
und leicht bewegen will.“ (S. 17). Ganz anders sei dies hingegen
bei dem noch in den Kinderschuhen steckenden Automobil, das Pascal
Fauvières nicht überzeugen kann.
Je
mehr sich die beiden Paare von Paris entfernen, desto mehr entfremden
sie sich die jeweiligen Partner. Die ständige Nähe auf der Reise bedrückt sie
und führt dazu, dass sie die Partner und Partnerinnen
“tauschen”. Anfangs ganz unverfänglich, verstärkt sich im
Laufe des Romans die erotische Spannung bis aus dem Interesse ein
körperliches Verlangen wird. Bebildert wird dieser velophile
Partnertausch durch die Illustrationen von Lucien Métivet
(1863-1932), die immer “luftiger” werden und die der
französischen Origanlauflage entnommen sind.
Der
Tenor des Romans ist folglich, dass eine Befreiung des Menschen
möglich ist. Ebenso wie das Fahrrad um 1900 grenzüberschreitend war
und als solches wahrgenommen wurde, ebenso lassen sich
gesellschaftliche Konventionen überwinden auf der Suche nach
wahrhaftiger Liebe.
Die
Idee und die Sprache von “Nun wachsen uns Flügel”, das von
Una Pfau und Matthias Kielwein sehr gut übersetzt worden ist, mag
aus heutiger Sicht ein wenig kitschig wirken. Der Roman ist jedoch
eine vortreffliche Quelle für die Fahrrad-Manie der
Jahrhundertwende, einer Zeit, in der Menschen zwar keine Flügel
wuchsen, aber das Fahrrad die Mobilität und damit auch die
Erfahrungen der Menschen spürbar erhöhte.
Abgeschlossen
wird das Buch von einem Nachwort von Elmar Schenkel, der den Roman
von Maurice Leblanc, der vor allem durch seine Romane über den
Meisterdieb Arsène Lupin zu Berühmtheit gelangen sollte, in den
größeren Zusammenhang einordnet: “Leblancs Roman ist sicher
keine tiefsinnige Literatur, sondern ein leichtfüßiger Gesang auf
die Liebe, die Freikörperkultur, den Tourismus, den Jugendstil, die
Bewegung in der freien Natur und eben das Fahrrad, all dies
zusammenbringt und ermöglicht.” (S. 157)
Jon Day,
Cyclogeography. Journeys of a London Bicycle Courier, London, Notting
Hill Editions, 2015.
Von Lars Amenda
[For three years Jon
Day worked as a bicycle courier in London, having a huge impact on
his views on the city. In the book he reflects on the specific
insights of the bike messenger and depicts his ways and „journeys“
on two wheels, being inspired by art and literature. In short:
„Cyclogeography“ is a great read for couriers and non-couriers.]
Fahrradkuriere gibt
es schon seit dem 19. Jahrhundert, doch mit den notorischen Staus in
den als “autogerecht” geplanten Städten der Nachkriegszeit erlebten
sie seit den 1980er Jahren einen Boom. Die Arbeit als Fahrradkurier
ist körperlich hart und gefährlich – sie ermöglicht aber auch
seltene Einblicke in die Mechanismen und Wege einer Stadt. Für den
Fahrradkurier verwandeln sich Karten und Routen zu einem
zusammenhängenden Raum von Straßen, Büros, verschiedenen Arealen
mit jeweils typischen Gerüchen und Klängen.
Jon Day erzählt im
vorliegenden Buch von seinen Erfahrungen als Radkurier in London. Er
betont die Besonderheit der „Knowledge“ (S. 3), jene intime
Kenntnis der Stadt, ihrer großen und kleinen, abseitigen Straßen,
wie sie auch Taxifahrer haben. Für den Kurier kommt der ständige
Wechsel zwischen öffentlichem Raum und privaten Sphären hinzu.
Selbst für den gebürtigen Londoner Jon Day lernt der Fahrradkurier
Jon Day seine Heimatstadt noch einmal auf völlig neue Weise und in ganzen Zusammenhängen kennen. So ist denn auch der Titel
des Buches ein Wortspiel mit der „psychogeography“, die
Auswirkungen von Architektur und Städten auf die menschliche
Wahrnehmung erforschen möchte.
Die Arbeit und die
körperlichen Anstrengungen erfüllen ihn, oder anders ausgedrückt,
lassen wenig andere Gedanken zu: „I loved the mindlessness of the
job, the absolute focus on the body in movement … I loved the
blissful, annihilating exhaustion at the end of a day’s work, the
dead sleep haunted only by memories of the bicycle.“ (S. 3)
Jon Day beschreibt
den Job des Fahrradkuriers in seiner ganzen Ambivalenz, von der
(gefühlten) Freiheit bis zur vergleichsweisen schlechten Bezahlung
(zumindest seit dem allmählichen Niedergang seit den 1990er Jahren
dank Fax und Internet). Er charakterisiert einige schräge frühere
Kollegen und interviewt ein paar „alte Hasen“, die nicht ohne Nolstalgie
auf ihre frühere Zeiten auf der Straße zurückblicken.
Für Jon Day ist die
Arbeit als Fahrradkurier aber auch inspirierend; es ist eine (andere)
Art von Lektüre: „Alongside riding London I began to read it.“
(S. 7) Und so verweist er im Laufe seines Textes auf einschlägige
Bücher von Samuel Beckett, Alfred Jarry, Luigi Bartolini und einigen
anderen. Arbeit und Kunst bilden für ihn zunehmend eine Einheit und
beeinflussen sich gegenseitig.
Neben der typischen
Kultur, der Subkultur der Fahrradkuriere, die er durch seinen Bruder
kennenlernt und die er mit ihren Orten und Rennen (Alleycats)
vorstellt, zieht es ihn aber zunehmend auf seinen Touren in der
Freizeit heraus aus der Stadt. So fährt er etwa die vom Künstler Richard
Long 1967 mit dem Fahrrad geschaffene flüchtige „Skulptur“ nach,
die lediglich aus einem Kreis von unsichtrbaren Punkten um London besteht, nach.
Jon Day strebt nach
etwas anderen, das bahnt sich im Buch deutlich an und wird immer
stärker, Nach drei Jahren hört er als Fahrradkurier auf und
arbeitet fortan als lecturer
für Englische Literatur an einer Universität in London. Die Zeit
als Fahrradkurier hat ihm gleichwohl viel gegeben und viel gelehrt,
wie er betont. So sind es denn auch die persönlichen Eindrücke und
die klugen Schlüsse aus seinen „Reisen“ als Fahrradkurier, die
am meisten Eindruck hinterlassen und die dem Leser London auf eine
andere und neue Weise näher bringen.
Radballspiel in der Deutschlandhalle im Rahmen der Olympischen Spiele 1938 in Berlin. Gustav Koeping im Tor.
Von Oliver Leibbrand
Der Hamburger Radballspieler Gustav Koeping war ein Ausnahmetalent. Er beherrschte das Radballspiel in den 1920er und 30er Jahren wie kein Anderer. Insgesamt gewann Gustav Koeping zehn Mal die Deutsche Meisterschaft im Zweier-Radball; zum ersten Mal 1923 mit seinem Partner Heinrich Holst im Alter von 15 Jahren. Sein Vater, Gustav Koeping sen., arbeitete als Fahrradmechaniker und hatte ein Fahrradgeschäft in Hamburg/Stellingen im Langenfelder Damm 103. Die Koepings gründeten den „Radfahrer-Verein Falke Stellingen von 1924“. Seine Titel holte Gustav jun., Spitzname „Guschi“ mit zahlreichen unterschiedlichen Partnern, darunter Walter Schnoor, Karl Schulz und Kurt Schnoor.
Bei der WM in Zürich 1936 gegen die Schweizer Mannschaft
Mit Eugen Blersch gelang 1936 der Weltmeistertitel in Zürich. 1938 gewann er die Weltmeisterschaft in Straßburg, dieses Mal mit Walter Schäfter. Die Sportjournalistenbezeichneten ihn nicht nur als „unübertrefflichen, phänomenalen Tänzer auf der Radballmaschine“, sondern auch als besten Einzelspieler aller radsporttreibenden Länder. 1936 spielte Koeping im Rahmenprogramm der von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken missbrauchten Olympischen Spiele in Berlin einen „Radball-Showkampf“. Im „Hakenkreuztrikot“ des Deutschen Radfahrer Verbandes (DRV), setzte Koeping linientreu seine sportliche Karriere fort. Nach dem 2. Weltkrieg übernahm er den Laden seines Vaters und entwickelte zahlreiche, technische Verbesserungen an Radballrädern, die sich auch international durchsetzten.
Werbeanzeige von Koepings „Weltmeisterschaftsmodell“. Archiv: Heimatmuseum Stellingen e.V.
Noch bis in die 1990er Jahre berichteten die Zeitungen regelmäßig über den Radball-Weltmeister und Fahrradmechaniker „Guschi“Koeping aus Hamburg/Stellingen.
Margarethe Koeping mit ihrem Mann Gustav Koeping vor dem Fahrradgeschäft im Langenfelder Damm. Archiv: Heimatmuseum Stellingen e.V.
Der
„junge“ Gregers Nissen mit seinen Vereinskameraden vom Eckernförder
Radfahrverein All Heil von 1887, hält in der Bildmitte das Hochrad fest.
Von Oliver Leibbrand
Fahrradfahren,
Fahrradtouren, Radwege und Reiseliteratur: Schon vor rund 120 Jahren setzte
sich der nordfriesische Volksschullehrer Gregers Nisssen für die Akzeptanz des
Fahrradfahrens ein
Der junge Student
Gregers Nissen gehörte zu den Fahrrad-Pionieren im Norden Deutschlands. Er
kaufte sich ein handgearbeitetes Hochrad aus Eisen für die damals sehr hohe
Summe von 300 Mark und setzte es in Stand. Nissen zog zum Studium 1885 nach
Eckernförde und gründete dort mit Gleichgesinnten den „Radfahrverein
Eckernförde von 1887“.
Geboren wurde Gregers
Christian Nissen, so sein vollständiger Name, am 3. Mai 1867 als Bauernsohn in
dem nordfriesischen Ort Soholm. Beide Eltern starben an Tuberkulose. Der Lehrer
und Organist Hans Carl Carstensen, aus dem nahegelegenen Leck, nahm den
verwaisten Jungen auf und förderte ihn. Mit dem Verkauf des elterlichen Hofes
wurde das Studium in Eckernförde finanziert. Nach dem Abschluss seines Studiums
wurde Nissen Volksschullehrer und 1890 nach Altona versetzt. Er heiratete die
Tochter seines Ziehvaters Johanna Wilhelmine Carstensen. Schon ein Jahr davor,
1889, war der erste Sohn Georg geboren worden, dem noch neun weitere
Geschwister folgten.
Um seine Großfamilie
zu ernähren und seinem teuren Radsport nachzugehen, arbeitete Nissen neben seiner Tätigkeit
als Lehrer auch als Organist, leitete einen
Kirchenchor und spielte Klavier in Hamburgs „gutsituierten“ Kreisen.
Darüber hinaus gab er Nachhilfeunterricht und komponierte. Neben seinen Hobbys
der Malerei und Fotografie schaffte er es auch noch seiner größten
Leidenschaft, dem Radsport, nachzugehen.
Seit 1891 hatte er
den Vorsitz des Altonaer-Bicycle-Clubs von 1869/80 übernommen. Hier versammelte
sich das Bürgertum und die Schwerpunkte lagen beim Wanderfahren, Saalsport
(Kunstradfahren, Radball und Radpolo) und regelmäßigen gesellschaftlichen Zusammenkünften.
Nissen
setzte sich Zeit seines Lebens besonders für den gesundheitlichen Nutzen des
Radfahrens ein. Das sogenannte Radwandern und der Radtourismus lag ihm
besonders am Herzen. Er hatte zahlreiche Führungspositionen in
verschiedenen Verbänden inne und entwickelte als Wanderfachwart ein besonderes
Engagement für den Radwegebau. So forderte er Wanderwege für Radfahrer in ganz
Deutschland und Europa, Radwege in den Städten, freie Überschreitung der
Grenzen und Radfahrerheime in Stadt und Land. Der renommierte
Radsportjournalist, Fredy Budzinki, erinnerte sich zum 100. Geburtstag Nissens
unter der Überschrift: „Der König der Wanderfahrer, Der Vater der Radwege Von
Gregers Nissen haben wir`s gelernt! Gregers Nissen unvergessen“ an die Reaktion
auf diese Forderung: „Man hielt ihn für einen armen Irren, aber er hielt mit
der Zähigkeit des alten Friesen an diesen Plänen fest.“ Im Mai 1892
organisierte Nissen eine Huldigungsfahrt von über 100 Radfahrvereinen vom
Deutschen Radfahrer-Verband (DRB) nach Friedrichsruh zu Otto von Bismarck, die
großes Aufsehen erregte. Rund 2.000 Teilnehmer formierten sich am Ziel auf
einer Lichtung im Sachsenwald vor dem Fürsten und seiner Frau zu einem
Ehrenspalier.
Als
Mitarbeiter des internationalen Touristen-Verbandes setzte sich Nissen über die
Grenzen hinweg für den Radtourismus ein. Für seine Leistungen wurde er vielfach
ausgezeichnet. 1912 half er die Radsportwettbewerbe bei den Olympischen Spielen
in Stockholm zu organisieren. Im gleichen Jahr gründete er den „Radfahrbund von
1912“. Dort wurden auch „Jugendradfahrübungen für militärische Zwecke
angeboten.“ 1922 kam Nissens umfangreiches Werk mit dem Titel „Hand- und
Auskunftsbuch für Alt und Jung – Das Wanderfahren auf dem Rade“ heraus. Es
behandelte zahlreiche Aspekte rund um das Fahrradfahren und -touren wie
Speisen, Zelt-Lagerleben, Fahrvorschriften in anderen Ländern, Ausrüstung und
Karten
Gregers
Nissen, im Kreise zweier Mitstreiter bei einer seiner „berühmt, berüchtigten Alte
Herrenfahrten“
Als die
Radsportverbände durch die Nationalsozialisten gleichgeschaltet wurden, zog
sich Nissen zunächst aus fast allen Ämtern zurück. 64-jährig wurde er von der
neuen NS-Verbandsführung zum Führer der Radfahrerschaft im Gau Nordmark berufen.
1933 leitete er vom 25. Juli bis 4. August die Altherrenfahrt (die Teilnehmer
sollten älter als 50 Jahre sein) durch Schleswig-Holstein. Sie war ursprünglich
als Dänemark-Fahrt geplant, verblieb jedoch innerhalb deutscher Grenzen. Weiterhin engagiert
meldete sich Nissen in den darauffolgenden Jahren in der Zeitschrift Der
Deutsche Radfahrer zu Wort. Dort erschien am 24. Juni 1942 sein Nachruf. Zu
Lebzeiten soll er gesagt haben: „Das Radfahren hat mich stark und gesund
erhalten. Ich will hundert Jahre alt werden“. Gregers Nissen starb am 20. Juni
1942 in Altona.
Albert Richter stammt aus dem Kölner Arbeiterviertel Ehrenfeld. Als Richter 1912 geboren wurde, gehörte Ehrenfeld erst seit 24 Jahren zu Köln. In diesem westlichen Stadtteil hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Unternehmen angesiedelt, darunter so bekannte wie Villeroy und Boch sowie 4711, aber auch kleinere Betriebe wie der, in dem der Vater von Albert Richter, Johann, als Gipsmodelleur arbeitete, einem heute in Deutschland ausgestorbenen Beruf .
Ein weiteres großes Unternehmen in Ehrenfeld waren die 1882 gegründeten Helios-Werke. Nach mehreren Pleiten wurde deren Motorenhalle in eine Veranstaltungshalle mit Radrennbahn umgebaut und „Rheinlandhalle“ getauft. Dort fanden zahlreiche Veranstaltungen statt, darunter die seit 1928 in Köln stattfindenden Sechstage-Rennen. Dort befindet sich heute auch eine Tafel zur Erinnerung an Richter.
Die Radrennbahn in der Rheinlandhalle wurde von Clemens Schürmann erbaut, dessen Sohn und Enkel wiederum später die Radrennbahn in Köln-Müngersdorf planten, die heute den Namen von Albert Richter trägt. Schürmann baute auch die Radrennbahn in Rom, auf der Richter 1932 Weltmeister wurde.
Albert Richter wohnte nur wenige Minuten von der Rheinlandhalle entfernt. Er nahm als Jugendlicher die Möglichkeit wahr, dort zu trainieren und an den dortigen Amateurrennen teilzunehmen. Viele junge Kölner wollten damals Radrennfahrer werden; ihr großes Vorbild war der Kölner Mathias Engel, der 1927 in der Heimatstadt Weltmeister geworden war. Dort in der Rheinlandhalle erntete Richter auch seine ersten Lorbeeren als Rennfahrer. Im November 1931, Richter war 19 Jahre alt, ging er erstmals nach einem solchen Renntag als Sieger nach Hause.
Schon ein Jahr später wurde Albert Richter überraschend in Rom Weltmeister der Amateur-Sprinter, wenig später wurde er Profi. Als solcher war er das ganze Jahr lang auf Reisen, lebte oft wochen- oder monatelang in Paris, dem Mekka der Sprinter. Sein erstes Rennen als Profi bestritt Richter aber in der Kölner Rheinlandhalle, und zwar am 14. Oktober 1932, seinem 20. Geburtstag. Die Rheinlandhalle war nicht nur ausverkauft, sondern musste wegen des großen Andrangs von der Polizei abgesperrt werden. Es gelang ihm als Profi zwar nie, Weltmeister zu werden, er wurde aber zweimal Vize-Weltmeister, mehrfach Dritter, war von 1933 bis 1939 ununterbrochen Deutscher Meister und siegte 3mal beim „Grand Prix de Paris“, einem renommierten Klassiker für Sprinter.
Obwohl Richter nach seinem Übertritt zum Profitum viel reisen musste, hing er sehr an seinen Eltern sowie an seiner Heimatstadt und mietete sich daher eine eigene Wohnung in der Sömmeringstraße 72, seinem Elternhaus. Doch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sowie die Folgen schreckten Richter von längeren Aufenthalten in Köln ab. Diese Tendenz verstärkte sich mit den Jahren, als er hörte, was in Köln passsierte: Dass etwa der Betrieb, in dem sein Vater und er selbst gearbeitet hatten, von Männern in braunen Hemden überfallen wurde und die jüdischen Besitzer ins Ausland fliehen; und dass sein Bruder, der einen Lebensmittel-Laden betrieb, Schwierigkeiten bekam, weil er weiterhin Juden bediente.
Seitdem Albert Richter Profi geworden war, hatte er zudem einen jüdischen Manager, einen Kölner namens Ernst Berliner. Die beiden Männer verband ein enges Vater-Sohn-Verhältnis. Obwohl es schon recht bald nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zum Ausschluss von jüdischen Mitbürgern aus dem Profi-Sportbetrieb kam, ließ Richter sich nicht beirren und weiter von Berliner managen. Berliner war es, der den jungen Radsportler nach Paris schickte, um sich dort den letzten Schliff zu holen.
Der junge Kölner aus einfachen Verhältnissen freundete sich dort schnell mit anderen Fahrern an, seine besten Freunde waren der belgische Weltmeister Jef Scherens sowie der französische Fahrer Louis Gérardin. Die drei reisten viel gemeinsam zu Rennen und erhielten den Spitznamen „Die drei Musketiere“. Richter war auch bei den Zuschauern im Ausland ungewöhnlich beliebt, er war ein „Europäer“. Es ist belegt, dass Richter zudem im Ausland nicht das offizielle Hakenkreuztrikot, sondern vorzugsweise eins mit dem Reichsadler trug. Ausländischen Freunden gegenüber bezeichnete er die Nazis als „Verbrecherbande“. Und nicht nur bei der Siegerehrung zur Deutschen Meisterschaft 1934 in Hannover verweigerte Richter den „Deutschen Gruß“, anders als alle, die ihn umstanden. Für Unmut bei den deutschen Machthabern sorgte z.B. auch, dass er in Paris einen farbigen Betreuer hatte und sich mit diesem auch ablichten ließ.
1937 emigrierte Ernst Berliner mit seiner Familie 1937 in die Niederlande, Richter ließ sich aber auch weiterhin von ihm im Ausland managen. Da die Beiden sich auch gemeinsam auf dortigen Rennbahnen sehen ließen, kann dies den deutschen Behörden nicht verborgen geblieben sein. Auf jeden Fall wussten die deutschen Sportfunktionäre, dass Albert Richter ihre Weltanschauung nicht teilte und daraus auch keinen Hehl machte, besonders nicht im Ausland.
Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Zu dieser Zeit befanden sich die besten Rennfahrer, unter ihnen auch Richter, in Mailand, da dort die Weltmeisterschaften stattfanden. Diese Weltmeisterschaften wurden mitten im Finale unterbrochen, so dass der Weltmeister nicht mehr ermittelt wurde. Richter war ein weiteres Mal Dritter geworden. Nach Zeugenaussagen reagierte er „verzweifelt“ auf die Nachricht vom Kriegsausbruch und beteuerte, er könne nicht auf Menschen schießen, „die ich liebe, die mich lieben und denen ich soviel zu verdanken habe“.
Ein französischer Journalist berichtete später von seiner letzten Begegnung mit Richter, bevor dieser aus Mailand abreiste. Richter sagte: „Bald, sehr bald sehen wir uns wieder. Dann werden wir frei sein. Aber in den schlimmsten Momenten, die wir durchmachen werden, vergeßt nie, daß ihr da drüben einen Freund habt.“
Noch einmal startete Richter in Deutschland, in Berlin, und gewann dort den „Großen Preis“. Während dieses Aufenthalts in Berlin entstand auch eines der letzten Fotos von Richter, das makabrerweise erst nach seinem Tod im „Deutschen Radfahrer“ erschien. Von dort aus fuhr er zum letzten Mal nach Köln. Seinem Manager Berliner kündigte er brieflich an, von dort Geld für einen anderen jüdischen Freund mitzunehmen, der schon im Ausland lebte; Berliner hatte ihm zuvor dringend davon abgeraten.
Dieser letzte Besuch von Richter bei seiner Familie war zu Weihnachten. Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Richter befürchten musste, wegen seiner weiterhin bestehenden Verbindung zu Berliner und auch wegen seines Status als berühmtem Sportler sehr bald einberufen und direkt an die Front geschickt zu werden, hatte doch Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten die Losung ausgegeben: „Meine besten Sportler sollen auch des Führers beste Soldaten sein.“ Zudem besuchten ihn, so bezeugten seine Eltern später, Angehörige der Gestapo, die versuchten Richter zur Spionage im Ausland zu erpressen, indem sie auf seine Verbindung zu Berliner hinwiesen. Seine Mutter berichtete später, ihr Sohn habe gesagt: „Ich habe im Ausland nur Freunde, ich kann Derartiges nicht tun.“ Zuvor hatte die Gestapo schon versucht, Druck auf seine Eltern auszuüben.
Aus diesen Gründen und aus einer pazifistischen Grundhaltung heraus „ich kann auf meine Freunde nicht schießen“ – beschloss Richter in die Schweiz zu reisen und nicht zurückzukommen. Auf diese Reise nahm er das ihm anvertraute Geld für den jüdischen Freund mit. Das Geld war in die Reifen seines Rennrads eingenäht.
Am 31. Dezember 1939 wurde das Geld vom Zoll beim Grenzübergang gefunden, Richter nach Lörrach ins Gefängnis eingeliefert, wo er am 3. Januar 1940 morgens in seiner Zelle tot aufgefunden wurde. Indizien sprechen dafür, dass er umgebracht oder zumindest in den Selbstmord getrieben wurde.
Mit Richter gemeinsam im Zug saßen zwei holländische Rennfahrer, Cor Wals und Cees Pellenaers, auf dem Weg zum Silvester-Rennen in Zürich. Die Beiden sahen, und berichteten das auch wenig später gegenüber Journalisten, wie die Zollbeamten zielgerichtet die Reifen von Richters Rennrad aufschnitten und das Geld fanden. Richter wurde abgeführt; seine Familie in Köln am 2. Januar von der Verhaftung informiert. Sein Bruder Josef, der ja einen Lebensmittelladen betrieb, machte sich mit seinem Laster auf den Weg.
Als Josef Richter in Lörrach am Abend des 2. Januar eintraf, wurde ihm mitgeteilt, für einen Besuch bei seinem Bruder sei es zu spät, er möge am nächsten Morgen wiederkommen. Am nächsten Tag wurde er über den Tod von Albert unterrichtet. Der Gefängnisaufseher erzählte Josef Richter, Albert habe ihn gebeten, ihm für den nächsten Tag eine Beschäftigung im Gefängnis zu besorgen, da er sich langweile.
Josef Richter gelang es, die Leiche von Albert im Totenkeller des Krankenhauses zu sehen; sie sei blutig gewesen, berichtete er später. Zunächst wollten die Behörden den Leichnam nicht herausgeben, dann jedoch durfte Josef den Sarg mit Inhalt in seinem Laster mitnehmen unter der Auflage, dass der versiegelte Sarg nicht mehr geöffnet werden dürfe. Der Totengräber, der Albert Richter eingesargt hatte, sagte später aus, der Tote habe eine Einschusswunde im Genick gehabt.
In den Zeitungen erschienen die ersten Todesmeldungen ohne Angabe einer Todesursache. Der „Westdeutsche Beobachter“ veröffentlichte am 6. Januar 1940 eine im Inhalt nichtssagende Meldung mit der Überschrift „Heute rot – morgen tot!“ Und vier Tage später erschien eine Meldung im „Deutschen Radfahrer“ : „Richter hat, um es mit dürren Worten zu sagen, für einen Kölner Juden zum wiederholten Male den diesmal, Gottseidank, mißlungenen Versuch gemacht, größere Markbeträge in die Schweiz zu verschieben. Er hat sich damit außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft und selbstverständlich genau so kraß außerhalb der Gemeinschaft des deutschen Sports gestellt. Daraus hat er die einzig mögliche Konsequenz gezogen und den Freitod gesucht. Wir alle bedauern tief, daß er, der einmal einer der Unsrigen war, auf diese Art sein Vaterland, das jetzt in den schwersten Stunden sich durchzukämpfen hat, verriet. Sein Name ist für alle Zeiten in unseren Reihen gelöscht.“
Als erstes wurde von offizieller Seite die Nachricht verbreitet, Richter sei bei einem Ski-Unfall ums Leben gekommen; diese Nachricht wurde von vielen ausländischen Zeitungen nachgedruckt. Als jedoch durch Pellenaers und Wals die Wahrheit über die Verhaftung bekannt wurde, hieß es zunächst, Richter sei auf der Flucht erschossen worden. Der Berliner Radsportjournalist Fredy Budzinski berichtete nach dem Krieg, er habe von Reichsradsportführer Victor Brack (der später wegen als Kriegsverbrecher gehängt wurde) persönlich die Anweisung erhalten, diese offizielle Nachricht ins Blatt zu setzen.
Richters Leichnam wurde nach Ehrenfeld zurückgebracht. Obwohl den Eltern verboten worden war, vor der Beerdigung die Todesanzeige zu schalten, nahmen rund 200 Menschen an der Beerdigung teil. Das Grab befindet sich bis heute auf dem Ehrenfelder Friedhof, wo es dadurch auffällt, dass ein Foto am Grabstein befestigt ist. Dies veranlasste sein bester Freund und größter Konkurrent Jef Scherens, in dessen belgischer Heimat dies üblich ist.
1966 kam es aufgrund einer Anzeige von Ernst Berliner, der mittlerweise in den USA lebte, zu einem Ermittlungsverfahren. Berliner kam nach dem Krieg mehrfach nach Köln und versuchte zunächst, aus privater Initiative die Wahrheit herauszufinden. Dabei musste er die Erfahrung machen, dass er selbst von einigen ehemaligen Radsport-Schützlingen für Richters Tod verantwortlich gemacht wurde. Sie glaubten, es sei Berliners Geld gewesen, das Richter dabei hatte.
1966 kam der zuständige Kriminalbeamte nach ersten Ermittlungen zu dem Schluss, dass es sich beim Tod von Albert Richter um „Mord oder erzwungenen Selbstmord“ gehandelt habe und regte weitere Ermittlungen an. Trotzdem wurde das Verfahren im Jahr darauf eingestellt, nachdem wichtige Zeugen erst gar nicht befragt worden waren. Ein Justizbeamter aus Lörrach, der zum fraglichen Zeitpunkt allerdings Soldat war, bezeugte jedoch, dass Gefangene im Lörrach recht häufig Selbstmord begangen hätten und dass die Gestapo freien Zutritt zum Gerichtsgefängnis gehabt habe. Ein Kollege ergänzte: „Zum Teil wurden die Häftlinge … von der Gestapo in den Selbstmord getrieben. Selbstmorde waren eigentlich an der Tagesordnung… Manchmal hörte man aus den Zellen Schreie….“.
Renate Franz: „Ich bin überzeugt, dass Albert Richter keinen Selbstmord begangen hat, sondern durch die Hand der Gestapo zu Tode kam und dann der Selbstmord vorgetäuscht wurde, obwohl die letzten Beweise dafür fehlen. Ich bin davon überzeugt, dass Richter trotz Folter stark geblieben ist und dass den Unmut der Gestapo-Leute hervorgerufen hat. Für meine Überzeugung sprechen aber nur Indizien sowie die Persönlichkeit Richters. Als Rennfahrer war er für seine Ruhe und seine starken Nerven bekannt. Außerdem stürzte er während seiner Karriere als Radsportler viele Male, trug schwere und schmerzhafte Verletzungen davon und saß oft genug bald wieder auf dem Rad. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann mit einer solch starken Persönlichkeit, sollte denn die Gestapo in seine Zelle gekommen sein und ihn gequält haben, wenige Stunden danach Selbstmord begangen haben soll.“
Bis heute bleibt zudem die Frage offen, ob Richter damals verraten wurde. Denn laut Wals und Pellenaers durchsuchten die Zollbeamten damals zielgerichtet die Reifen seines Rades und schnitten diese auf, während das Gepäck von Wals und Pellenaers sowie andere Reisender kaum durchsucht wurde.
Nach den Recherchen des Filmemachers Raimund Weber liegt es nahe, dass dieser Verräter Richters Freund und Radsport-Kollege Peter Steffes gewesen sein könnte. Trude Steffes betont in Webers Film „Auf den Spuren von Albert Richter, Radrennfahrer“: „Da war kein Grund sich das Leben zu nehmen. Aber er hat halt die Nerven verloren. Wir haben damals gehört, daß er freigekommen wäre.“ Auf die Frage nach einem Verrat antwortete Steffes, der im Übrigen murmelnd von Berliner als „dreckelige Jüd“ spricht: „Das ist Quatsch.“
Johann Richter, der Vater, bemühte sich jahrelang um eine finanzielle Wiedergutmachung durch den Staat sowie um die Gelder, die Richter auf Anraten Berliners im Ausland angelegt hatte. Bei den Konten war er mit Hilfe von Berliner teilweise erfolgreich, eine Wiedergutmachung oder auch nur eine Rehabilitierung durch den bundesdeutschen Staat erfolgte nicht. Die beiden Brüder von Albert waren im Krieg gefallen, zudem verunglückte 1940 ein Enkel tödlich, so das die Eltern Richter in fünf Jahren vier Jungen der Familie verloren.
Die Erinnerung an Richter verblasste bald in Köln sowie in Deutschland. In den 1940er und 19 50er Jahren gab es noch ein paar Rennen zu seinem Gedächtnis, allerdings wurden dabei niemals die Umstände seines Todes kritisch beleuchtet. Vorzugsweise beharrte man auf der Selbstmord-Version oder auf dramatische Formeln wie „mußte uns zu früh verlassen“, oder gar „sein Stern ist jäh erloschen“. Eine der Nichten berichtete, dass ihr auf einem Familienfest vorgeworfen worden sei, ihr Onkel sei ein „Feigling“ gewesen.
Im Bund Deutscher Radfahrer waren dieselben Kräfte am Werk wie vor 1945: So war ein ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter, der Transporte von Juden nach Theresienstadt begleitet hatte, federführend im Bezirk Köln. Mehrere Präsidenten des BDR nach 1945 hatten schon zur Nazi-Zeit maßgebliche Posten im Radsport besetzt. Und einige der Nachkriegs-Radsport-Stars waren Mitglieder der NSDAP gewesen, so etwa Gustav Kilian, Walter Rütt, aber auch Walter Lohmann. Da war der Elan zur Aufklärung verständlicherweise begrenzt.
1960 gab es in Köln eine Initiative, die neuen Wege im Bereich des Müngersdorfer Stadions nach Kölner Sportlern zu benennen; die FDP schlug eine Reihe Namen vor, darunter Albert Richter, der aber nicht berücksichtigt wurde.
Anders übrigens in der DDR: In Halle an der Saale gab es eine „Albert-Richter-Kampfbahn“, ebenso in Schwerin, auch eine Betriebssportgemeinschaft wurde in Halle nach ihm benannt. In Zeesen, einem kleinen Ort südlich von Berlin, gab es ein „Albert-Richter-Kinderheim“, das sich in einer ehemaligen Villa von Gustav Gründgens befand. Und in der DDR wurden auch mehrere Bücher über Richters Schicksal publiziert, darunter ein Kinder- sowie ein Jugendbuch. Zudem erschien 1965 eine Sonderbriefmarke mit Richters Porträt, wenn es auch nicht sehr ähnlich ist. Bezüglich der „Kampfbahn“ in Schwerin, gibt es noch eine Anekdote: Im Zuge der Wiedervereinigung gab es Bestrebungen, diesen Sportplatz umzubenennen. Renate Franz schrieb daher der Sportverwaltung, dass man in Köln gerade dabei sein, eine Radrennbahn nach Richter zu benennen, deshalb ließ man davon ab. Leider existiert dieser Sportplatz heute nicht mehr.
So dauerte es 25 Jahre, bis Albert Richter und sein Schicksal in den Blick der Öffentlichkeit gelangen. Der Erste, der an Albert Richter erinnerte, war ein Filmemacher und Drehbuchautor aus Hamburg, Raimund Weber. Von einem holländischen Onkel erfuhr er, dass dieser Albert Richter 1940 unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen sei. Weber begab sich daraufhin an die Recherche und holte bis dahin unbekannte Fakten ans Licht. Sein Film „Auf den Spuren von Albert Richter – Radrennfahrer“ wurde 1990 in der ARD ausgestrahlt. Dabei stellte Weber die – allerdings letztlich unbewiesene – Behauptung, auf, Richter, der für einen befreundeten Juden Devisen in die Schweiz bringen wollte, sei von einem Freund denunziert und schließlich von der Gestapo in Lörrach liquidiert worden.
Der Film führte zu Aktivitäten in Köln, wie der Initiative zur Benennung der Bahn, Umwandlung des Grabes in ein Ehrengrab sowie die Herausgabe des Buches „Der vergessene Weltmeister“. An der Rheinlandhalle wurde eine Tafel zur Erinnerung an Richter angebracht.
Mehrere Jahre lang trug Nachwuchs-Sprinter-Cup des Bundes Deutscher Radfahrer Albert Richters Namen. Es folgten zwei weitere Filme, 2005 ein längerer Dokumentar-Film auf Arte, im Jahr danach ein kleiner Bericht im holländischen Fernsehen. Eine ganz besondere posthume Ehrung für Albert Richter war seine Aufnahme am 6. Mai 2008 in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ als einen von zunächst 40 Sportlern. Studenten der Deutschen Sporthochschule in Köln initiierten zudem die Verlegung eines Stolpersteins vor Richters Elternhaus in Ehrenfeld.
Köln, den 20. April 2015
Buch: Renate Franz: Der vergessene Weltmeister. Das rätselhafte Schicksal des Radrennfahrers Albert Richter. Verlag Covadonga, Bielfeld 2007.
“Die ganze Gegend bis Stade hinunter führt im Volksmunde den bezeichnenden Namen ‘Kirschenland’, auch das 'Alte Land’ genannt. Ortschaft reiht sich an Ortschaft; vor dem schönen Fusspfad in dem lang und schlecht gepflasterten York möchten wir indessen warnen, die löbliche Ortspolizei hat auf die passierenden Radfahrer ein gar wachsames Auge. Sobald man das 'Alte Land’ betritt, glaubt man sich in eine ganz andere Weltgegend versetzt . Alles ist hier anders, als sonstwo in den Marschen: die Gegend, die Benutzung des Bodens, die Sitten, der Gruss, ja sogar die Gesichter. Die Frauen sind schön, schlank, mit schönem Teint und tiefblauen Augen. Mit Zähigkeit halten die Altenländer an ihrer alten flandrischen Tracht fest. Während die übrigen Marschen eine ebene, wiesenartige Oberfläche zeigen, so gewahrt man hier dagegen den buntesten Anblick der Welt. Alles ist mit den verschiedenartigsten Obstbäumen bewachsen, kaum einen Blick auf die hübschen Häuser zulassend. – Hier ist das Kirschen-, Apfel- und Pflaumenmagazin für fast ganz Norddeutschland. Zieht man nun gar im Monat Mai dieses Weges, so radelt man in facto auf blumigen Pfad; alles ist unter Blüten begraben. Einen gleichen landschaftlichen Reiz in Deutschland bietet uns nur die alte berühmte 'Bergstrasse’ in der Pfalz.”
Hunde und Menschen hegen eine ganz besonders innige Beziehung. Der „beste Freund“ des Menschen, der Hund, folgt seinem Herrchen überall hin, ist die treueste Seele schlechthin und verdient sich allein deshalb schon die von vielen so stark empfundene Liebe. Doch der Mensch ist nicht nur
Fußgänger. Er ist seit dem späten 19. Jahrhundert auch
Fahrradfahrer und weist als solcher ein leicht abweisende Sicht auf
Hunde und ihre natürlichen Instinkte auf. Über die Geschichte
dieser Beziehung, die nicht ganz grundlos als „Feindschaft“
charakterisiert werden kann, soll es im Folgenden gehen.
Eduard Bertz listete
in seiner 1900 erschienenen „Philosophie des Fahrrads“ Hunde
allerdings nicht als Feinde des Radfahrers auf – im Gegensatz zu
Kutschern und Fußgängern. Er illustriert mit Verweis auf Hunde aber
die große Verletzlichkeit des Fahrradfahrers, denn „selbst Kinder
und Hunde können ihn zu Fall bringen und ihm schweren Schaden
zufügen an Gesundheit und Leben“ (Bertz, S. 179). Es kam in der
Tat immer wieder aufgrund von frei laufenden Hunden zu Unfällen beim
Training und bei Radrennen. Mir ist noch ein großer brauner Hund vor
Augen, der vor Jahren einem Fahrer bei der Tour de France vor das
Vorderrad lief. Nicht immer lief es bei Stürzen glimpflich ab, wie
der „Liste von tödlich verunglückten Radrennfahrern“ in einem
bekannten Internet-Lexikon zu entnehmen ist. Der Brite Peter Buckley
starb etwa am 11. August 1969 nach einem von einem Hund verursachten
Sturz an seinen Verletzungen. Dieses Schicksal ereilte auch den
Portugiesen Joaquim Agostinho, der auf der Algarve-Rundfahrt mit
einem Hund kollidierte und 10. Mai 1984 aufgrund eines Schädelbruches
starb.
Neben dieser
„höheren Gewalt“ hegten einige Hundebesitzer immer wieder auch
böse Absichten. Bertz konstatierte dazu: „Selbst Hunde, die
ohnehin schon eine Gefahr des Radsports bilden, werden geflissentlich
auf Radfahrer dressiert (Ebenda, S. 188). Das Hetzen von Hunden auf
Radfahrer scheint in der Tat kein vereinzeltes Phänomen gewesen zu
sein. Harro Feddersen, der Mitbegründer des Eimsbütteler
Velocipeden-Reit-Clubs (ab 1881 ABC) erinnerte sich rückblickend an
die Pionierzeit der Velozipede um 1870: „Nicht am ungefährlichsten
war den kühnen Reitern die unbändige Lust der lieben Straßenjugend,
diese neumodischen Rosse und Reiter mit Steinen, Knütteln oder gar
noch unangenehmerem Schießmaterial zu begrüßen, in den Dörfern
die Hunde auf sie zu hetzen usw. und so dem unsicheren Reiter manchen
Tropfen Angstschweiß auszupressen“ (Lüdtke/Lorenzen 1927, S.
129).
Hundehalter mit
einer ausgeprägten Abneigung gegenüber den „neumodischen“
Proto-Fahrrädern machten sich solcherart den angeborenen
Jagdinstinkt des Hundes zunutze, um die wenigen Radfahrer
einzuschüchtern und zu drangsalieren.
Die technische
Entwicklung des Fahrrads wirkte sich direkt auf das jeweilige
Radfahrer-Hund-Verhältnis zu einer bestimmten Zeit aus. Waren die
langsamen und behäbigen Velozipede und ihre ihre in Angstschweiß
badenden Reiter noch ein „gefundenes Fressen“ für Hunde, so
verfügten Hochräder über einen gewissen Sicherheitsabstand zu
allzu aufdringlichen Vierbeinern. Zumindest sind Belästigungen aus
der Hochphase des Hochrads in den 1870er und 1880er Jahren meines
Wissens rar. Mit dem Siegeszug des Niederrads ab 1890 kam man dem
Hund dann jedoch wieder „entgegen“, mit entsprechenden Risiken
und Nebenwirkungen.
Moriz Band (1895), S. 196.
Hunde stellten vor
allem auf dem platten Land ein Problem dar. Heinrich Horstmann
berichtet über seine Weltreise auf dem Fahrrad in den Jahren 1894/95
gleich zu Beginn von einem unerwünschten Intermezzo, dessen
Hauptrolle eine „riesige Dogge“ auf einem Bauernhof in den
Niederlanden spielte. Gleichmütig pedalierend lief ihm diese
urplötzlich vor das Rad. „Ein kräftiger Hieb mit der Peitsche
saust dem Hundevieh über die Ohren, dieses läßt von mir ab und
will nach vorn auskneifen und ich fahre mit voller Wucht darauf –
rechts lag mein Rad im Graben und ich links. Resultat:
Hautabschürfungen an der Hand, ein geschwollenes Knie, zerrissene
Hose und verbogenes Pedal“ (Horstmann, S. 6). Der Schaden konnte
schnell mit Hilfe der ansässigen Bauern behoben, der Groll gegenüber
Hunden blieb Horstmann auf seiner Reise aber treu. Es war und ist nun
einmal die Aufgabe von Hofhunden, das Revier gegenüber
Eindringlingen zu schützen und in ihrer Wahrnehmung gehören
Radfahrer eindeutig dazu. Dies lässt sich bis heute erleben, mit
passierte es vor einigen Jahren in der Bretagne, dass ein Zähne
fletschender, nicht gerade kleiner Hofhund mich ein Stück
„begleitete“.
Stürze aufgrund von
„Hund-Kontakt“ finden sich in der Literatur und in verschiedenen
Quellen wiederholt ; eine Farblithografie von 1907 Charles Beauvais
zeigt etwa einen stürzenden Radfahrer, der mit seinem Vorderrad
einen Hund trifft und deshalb einen „Abflug“ macht (Lebeck, Das
Zweirad, S. 79).
Radfahrer/innen
mochten Hunde also nur sehr bedingt und hatte gute Argumente für
diese Einstellung. Sie ergriffen mannigfaltige Abwehrmaßnahmen, um
sich Kläffern mit Beißreflexen zu erwehren. Ein ganzes Arsenal an
Abschreckungsgeräten entstand diesbezüglich, welches die
„Feindschaft“ fast schon als veritablen Krieg erscheinen lässt.
Die Kataloge des um
1900 sehr populären Versandhandels von August Stukenbrok in Einbeck
sind eindrucksvolle Dokumente für den Abwehrkampf der Zweiradfahrer
gegenüber den Hunden. Der „Radfahrerschutz gegen Hunde“ klingt
erst einmal nicht besonders brutal und zeigt schon durch den
Wortgebrauch, dass die Aufrüstung als moralisch legitim galt. Die
Worte „Tierschutz“ und „Tierrechte“, daran sei kurz erinnert,
waren seinerzeit weder gebräuchlich noch gedanklich verbreitet.
Zum einen gab es die
„gute alte“ Peitsche, mit der auch andere Tiere gezüchtigt und
gepeinigt wurden. Diese wurde an den Lenker in den „Peitschenhalter“
geklemmt und war damit jederzeit griff- und einsatzbereit. Peitschen
existierten in verschiedenen Ausführungen. Der Stukenbrok-Katalog
von 1912 bot diverse „Radfahrerpeitschen in besonders guten
Ausführungen“ an. Die Peitschen gab es mit „Stahleinlage“,
verschiedenen Griffen und in unterschiedlichen Längen, damit auch
für jeden Geschmack etwas dabei war.
Auch manche „Hoheit“
schützte sich mittels Peitschen vor den niederen Instinkten des
Hundes, wie beispielsweise Prinz Ludwig Ferdinand und Prinz Alfons
von Bayern (von Salvisberg 1897, ohne Seitenzahl):
Wem eine Peitsche zu
archaisch war und wem nach mehr Show-Effekt dürstete, dem standen
„Hundebomben“ und „Hunderaketen“ zur Verfügung. „Bester
Schutz gegen die Belästigungen von Hunden“, versprach der
Stukenbrok-Katalog für Erstere und garantierte gleichzeitig, dass
Hund und Reiter auf jeden Fall unverletzt bleiben würden.
Die
Hundebomben funktionierten wie Knallfrösche und explodierten bei
Bodenkontakt und verkehrten den Jagdinstinkt von Hunden in einen
Fluchtreflex. Kommen wir zur Hundekanone: „Die Hundekanone ist mit
einer Schnur versehen, womit sie an der Lenkstange aufgehängt wird.
Will man die Kanone abschießen, so genügt es, diese abzuziehen und
nach dem Hunde zu werfen, sie wird dann in der nächsten Sekunde
schußähnlich explodieren.“ Die Hundekanonen verfügten wohl über
etwas mehr „Wumms“ als die Hundebomben, ist zu vermuten.
Schließlich existierten auch noch „Hundeverscheucher“ im
Stukenbrok-Angebot: „Dieser, in eleganter und flacher Form
hergestellte Apparat dient als vorzügliches Abwehrmittel gegen
Hunde. Mit Wasser oder eventl. mit einer leichten Salmiaklösung
gefüllt, ergiesst sich der Inhalt durch einen feinen Strahl auf das
gerichtete Objekt.“
Noch drastischer
Möglichkeiten boten Schusswaffen, die der oben erwähnte Heinrich
Horstmann in den Vereinigten Staaten regelmäßig einsetzte. In der
Nähe von Springfield hatte er abermals eine Begegnung mit einer
Dogge, die „mit mächtigem Geheul und Zähnegefletsch“ ihn
angegangen habe. „Mir war’s nun zu toll, so zog ich denn meinen
Revolver und brannte dem Hundevieh gehörig eins auf den Pelz, daß
es sofort alle Viere von sich streckte und kein Glied mehr rührte“
(Horstmann, S. 99). Horstmann schoß auch auf andere Tiere,
Fischotter beispielsweise, und soll angeblich auch einen Mann
erschossen haben.
Heinrich Horstmann
ist sicher ein extremer Protagonist der hier untersuchten
Feindschaft. Die große Mehrheit wollte Hunden nichts Böses, sondern
nun in Ruhe und ungefährdet auf dem Fahrrad vorankommen. So ebbte
die Feindschaft im Laufe des 20. Jahrhundert ab. Zum einen wurden es
immer mehr Radfahrer, was bei Hunden wohl selbst in der Provinz zu
einem gewissen Gewöhnungsprozess geführt haben dürfte. Auch
lernten Hundebesitzer dazu, vielleicht nicht zuletzt aus finanziellen
und versicherungsrechtlichen Gründen. Dass Hunde für Radfahrer aber
bis heute ein Problem darstellen können, lässt sich unschwer mit
einem Blick in verschiedene Fahrrad-Foren erkennen. Mit ein wenig
Besonnenheit lassen sich Konflikte aber einfach vermeiden. Der Hass
auf Hunde ist sicherlich kein guter Ratgeber …
Safe Rides.
Quellen und
Literatur:
Moriz Band, Handbuch
des Radfahr-Sport. Technik und Praxis des Fahrrades und des
Radfahrens, Lemgo: Johann Kleine Vennekate Verlag, 2013 (Erstaufl.
1895); Heinrich Horstmann, Meine Radreise um die Erde vom 2. Mai 1895
bis 16. August 1897, hrsg. und komment. von Hans-Erhard Lessing,
Leipzig: Maxime / Verlag Maxi Kutschera, 62007 (Erstaufl.
2000); Illustrierter Hauptkatalog 1902. August Stukenbrok Einbeck;
Illustrierter Hauptkatalog 1912. August Stukenbrok Einbeck (aus dem
Medienarchiv von Blitzrad); Robert Lebeck (Hrsg.), Das Zweirad.
Postkarten aus alter Zeit. Mit einem Nachwort von Jost Pietsch,
Harenberg: Dortmund, 1981 (Die bibliophilen Taschenbücher, Nr. 242);
Heinrich Lüdtke/Oskar Lorenzen, Die Turn- und Sportstadt Altona. Von
der Palmaille zum Stadion, Altona: Hammerich & Lesser, 1927; Paul
von Salvisberg (Hrsg.), Der Radfahrsport in Bild und Wort, Reprint,
Hildesheim/New York: Olms Presse, 1980 (Erstaufl. 1897).
Von Oliver Leibbrand (ABC) und Marc Metzler (RV Endspurt 1905)
Seit 1925 erinnerte der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 (ABC) posthum an seinen Vereinsgründer Harro Feddersen mit einem Erinnerungsrennen. Es war als Mannschaftsrennen ausgeschrieben und fand jedes Jahr im Mai zum Auftakt in die Rennsaison statt.
Auch 1931 gingen die Fahrer bei der Gaststätte Groth an der Elbchaussee auf die Strecke: Sie fuhren über Dockenhuden, Schenefeld und Pinneberg hinaus aus der Stadt; dann über Wedel, Rissen und Blankenese wieder zurück zur Elbchaussee zum Ziel. Der Rundkurs war ca. 50 km lang. Alle namhaften Vereine Hamburgs waren am Start: RV Germania, RV Sport Bergedorf von 1893, die Hamburger- und Rothenburgsorter-Radtouristen und der RV Endspurt von 1905 mit drei Mannschaften.
Am Sonntagmorgen ging es bei gutem Wetter los. Zahlreiche Zuschauer feuerten die Fahrer am Streckenrand an. Kurz nach dem Start gab es bereits viele Stürze, sodass die ersten Fahrer in Schenefeld aufgeben mussten. Doch „…die amtierende Sanitäts-Kolonne war zurHand und sorgte für die nötige Überführung der Verletzten ins Krankenhaus.“1Ab Pinnberg entbrannte ein heftiger Zweikampf zwischen den Teams von
RV Germania und RV Endspurt von 1905. Die erste Mannschaft von den
Endspurtlern konnte einen geringen Vorsprung herausfahren und ins
Ziel retten. „Der Kampf mit den an zweiter Stelle endenden Germanen
war kurz, aber hart“,
analysierte der zuständige Sportjournalist knapp. Besonders hob er
die Leistung des Fahrers Crackow von Endspurt hervor, der seine
Mannschaftskollegen immer wieder zu Vorstößen motivierte und
bis ins Ziel zusammenhielt. So siegte Endspurt vor zahlreichen Zuschauern, die die
Straßen zum Zielbereich säumten, mit einem komfortablen Vorsprung
von ca. zwei Minuten.
Hier
die Platzierungen der ersten vier Mannschaften:
1. RV Endspurt von 1905 (1:17:57)
2. RV Germania (1:19:58)
3. RV Sport Bergedorf von 1893 (keine Zeitangabe)
4. Hamburger-Radtouristen von 1894 (1:22:23)
Abbildung: Die Sieger von 1931 RV Endspurt von 1905. Archiv: Endspurt vón 1905
Auch
im darauffolgenden Jahr, 1932, fand das Rennen als klassisches
Radrennen des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) statt.
Höchstwahrscheinlich zum letzten Mal, denn aufgrund der
Machtübernahme der Nationalsozialisten, die folglich damit begannen,
Sportveranstaltungen als Länderkämpfe zu inszenieren und national
zu verklären, verschwand das Harro Feddersen-Rennen aus dem
Hamburger Rennkalender.
Im
Programm zum Erinnerungsrennen vom 8. Mai 1932 mutmaßte der ABC,
dass sich manch einer die Frage stellt: „Wer war Harro Feddersen?“
Und noch heute ist kaum bekannt, dass Harro Feddersen der Pionier der
Radsportentwicklung in Norddeutschland war. Er war begeisterter
Verfechter des Velocipedensports der 1860er Jahre; Gründer des ABC –
ältester Bicycle-Club der Welt; maßgeblich an der Gründung des
Deutschen Radfahrer Bundes von 1884 beteiligt; unterhielt Kontakte zu
sämtlichen Radsportprotagonisten im In- und Ausland und setzte sich
vehement und über Jahrzehnte hinweg für die gesellschaftliche
Akzeptanz des Radfahrens ein. Er
hatte auch ein Eisenwaren- und Waffengeschäft auf der Palmaille in
Atona, in dem er Velocipeden, Hochräder und Dreiräder sowie
Radfahrunterricht anbot. Doch über eine so „schillernde Figur“, wollen wir gerne an anderer Stelle noch einmal intensiver berichten.
Quellen:
Zeitungsartikel von 1931 ohne Quellenangabe. Internationales
Radsportarchiv Badmünster Eifel.
Programm des
Harro Feddersern-Erinnerungsrennes vom 8. Mai 1932.
Internationales Radsportarchiv Badmünster Eifel.
1 Zeitungsartikel 1931 ohne Quellenangabe, Internationales
Radsportarchiv Bad Münstereifel.
In der Ausgabe von 1923 des Sport-Albums der Rad-Welt (S. IV) erschien diese Werbeanzeige. Angepriesen wird u.a. Gregers Nissens “Das Wanderfahren auf dem Rade”, ein “unentbehrliches Auskunftsbuch für jung und alt”. “Hier sind alle Erfahrungen niedergelegt, die für den Wanderfahrer von Wert sind.” Das Buch fehlt uns im Übrigen noch, falls jemand einmal darüber stolpern sollte …
150 Ausflüge in Hamburgs Umgebung und in die Lüneburger Heide. Mit 23 Karten. [MitTipps für Radfahrer von Gregers Nissen], 17. Aufl., Hamburg 1912/13:
Verlagsanstalt und Druckerei-Gesellschaft (Richters Reiseführer).
Von Lars Amenda
Wozu in die Ferne
schweifen? Das dachten mit Blick auf die Hamburger Bevölkerung auch die Herausgeber von „Richters Reiseführer“ und veröffentlichten um
die Jahrhundertwende „150 Ausflüge in Hamburgs Umgebung und in die
Lüneburger Heide“. Die vorliegende 17. Auflage zeugt von
der großen Popularität des Buches, für das Gregers Nissen die
Radfahrer-Tipps beisteuerte (was auf der Titelseite dieser Auflage
jedoch nicht erwähnt wird). Der Führer beinhaltet, dem
Erfolgsrezept der Reihe folgend, detaillierte Tourenvorschläge, historische
Hintergründe, Informationen über Gaststätten und Hotels,
wunderschönes Kartenmaterial, ein Ortsverzeichnis und zahlreiche
Werbeanzeigen.
Die Touren führen
nach Blankenese, Itzehoe, Bad Bramstedt, Lübeck, Travemünde,
Ratzeburg, Mölln, Friedrichsruh, Lauenburg, Geesthacht, Helgoland,
Cuxhaven, Wilseder Berg, Fallingbostel, Lüneburg, Hitzacker, usw.
usf.
Die allerste Tour
geht nach Blankenese und bildet damit das herausragende Prunkstück
der Naherholung im Hamburger Umland im frühen 20. Jahrhundert.
Empfohlen wird eine Dampfertour von den Landungsbrücken nach
Blankenese und ein Fußmarsch zurück nach Altona.
„Für
Radfahrer. Schönste Strecke die Elbchaussee.
Altona-Blankenese 10,9 km, Wedel 21,3 km. Lohnend wenn man beim
Bahnhof Blankenese links abzweigt zum Süllberg (Wegweiser);
von hier hinab durch die schönste Schlucht zum Falkental,
dann am Strande entlang über Wittenbergen nach Schulau und
Wedel. Etwas beschwerlich.“ (S. 1)
Über die
wortgewandt gelobte Hansestadt Lübeck erfahren wir: „Für heimische
Radfahrer Nummernzwang; Fremde passieren unbehelligt. Gute
Radfahrwege, durch Schilder kenntlich. Beliebte Spazierfahrten nach
Schwartau (hin und zurück 15,0 km) oder in den schönen
Israelsdorfer Wald.“ (S. 26)
Auch manch
ungewöhnliche Information ist zu entnehmen. Über die Vierlande, bei
der Tour von Moorfleth nach Allermöhe und Curslack, heißt es
beispielsweise: „Sämtliche Deiche sind für Autos und Motorräder
gesperrt!“ (S. 49) Oder über die heutige Tatenberger Schleuse:
„Radfahrer haben für Passieren der Tatenberger Brücke 8 Pf.
Brückengeld zu entrichten.“ (S. 50)
Empfohlen wird auch
der Sprung über die Elbe, nicht zuletzt um die Perspektive zu
verändern: „Finkenwärder bietet dem Naturfreund manche Anregung.
Prächtige Aussichten vom östlichen und westlichen Norderelbdeich
auf das jenseitige Ufer. Ebenso schön ist die Aussicht auf
Blankenese und das hinter Blankenese liegende Elbufer vom Westerdeich
aus.“ (S. 61)
Die Lüneburger
Heide wird Wanderern und auch Radfahrern angepriesen: „Das ganze
Gebiet der Zentralheide eignet sich auch für Touren mit dem
Fahrrade, da zahlreiche Radfahrwege durch die Heide führen, Z. B.
von Schneverdingen zum Wilseder Berg und von diesem wieder nach allen
Richtungen.“ (S. 79)
Teilweise werden
Radfahrer vor schlechten Straßen gewarnt, so lautet es über die
Tour „Hamburg-Bardowieck-Lüneburg“: „Der Weg über
Wilhelmsburg, Harburg, Winsen nach Lüneburg ist nicht zu empfehlen,
da größtenteils schlechtes Pflaster. Man fährt am besten über
Bergedorf (17,3 km), Geesthacht (31,3 km) Elbfähre bei Artlenburg
(44,1 km) nach Lüneburg (60,5 km), Lüneburg-Bardowieck (6,2 km).
Interessante Rückfahrt durch die Hohe Heide über Soltau (51,8 km)
nach Hamburg 112,2 km). Dampfer nach Hamburg.“ (S. 92)
Der Führer „150
Ausflüge“ bietet eine wahrlich erschlagende Fülle an
Informationen; Tipps für Radfahrer tauchen regelmäßig auf,
sind aber vergleichsweise spärlich.
Das Buch schließt
mit zahlreichen Anzeigen für Gastätten und Hotels.
Victor
Silberer/George Ernst, Handbuch des Bicycle-Sport. Vollständiger
Reprint, hrsg. und biographischen Angaben ergänzt von Walter
Ulreich. Vorwort Hans-Erhard Lessing, Leipzig: Maxime-Verlag 2004
(Originalaufl. 1885).
Von Lars Amenda
Das „Handbuch des
Bicycle-Sport“ ist das deutschsprachige Standardwerk der Blütezeit
des Hochrads. Die Erstauflage erschien 1883, zwei Jahre später
erfolgte eine überarbeitete Neuauflage („Zweite, verbesserte,
namentlich auch unter Berücksichtigung des ‘Tricycle’ vielfach
vermehrte, und nach dem Fortschritte des Bicycle- und Tricycle-Sport
bis zu neuesten Zeit ergänzte Auflage“). Das Buch gehörte früher
zum Inventar des ABC-Clublokals „Hotel zu Sonne“, wie dem
Jahresbericht von 1892 zu entnehmen ist.
Die beiden
österreichischen Verfasser betonen den „grossartigen Aufschwung“
des „Velocipede-Sport“, der „ganz kolossale Fortschritte“ in
Deutschland und Österreich-Ungarn in den frühen 1880er Jahren
gemacht habe. (S. 5f.) Das „Bicycle“, wie das Hochrad seinerzeit
auch auf deutsch hieß, wird im Buch ausführlich beschrieben und die
verschiedenen Produkte der jeweiligen ausnahmslos englischen
Hersteller vorgestellt. Verschiedene Reifen, Pedale, Sättel, Lenker
(Steuerstange), Lampen, Zubehör wie Taschen und Werkzeug werden mit
vielen Abbildungen präsentiert und bewertet und Ihre Funktion dem
Leser auf diese Weise näher gebracht.
Ein besonderes
Augenmerk richten Silberer und Ernst auf die „Erlernung“ des
Fahrens. „Der Laie wird durch das hohe Rad und die schmale Spur des
Bicycles in seiner Annahme, dass das Balance-Halten beim Fahren so
grosse Schwierigkeiten verursache, bestärkt, und ungläubig
schüttelt er den Kopf, wenn wir ihm begreiflich machen wollen, dass
das Bicyclefahren auch ohne unzählbare Fälle von Purzelbäumen und
sonstige akrobatische Uebungen, ohne jegliche gefährliche Umfälle
und Unfälle, erlernt werden kann.“ (S. 218) Der Auf- und Abstieg
werden dem Anfänger ausführlich und mit Beispielbildern erklärt
und allgemein, wie im Zitat ersichtlich, soll die Furcht vor dem
große Rade genommen werden.
Die Autoren
propagieren voller Begeisterung das „Tourenfahren“, das „Schönste
von dem Schönen, was uns das Bicycle bietet“. (S. 249) Ein wenig
Training wird empfohlen, ebenso wie das Kartenstudium; es folgen
ausführliche Tipps über das optimale „Costüm“ und das
allgemeine Verhalten unterwegs. Anschließend wird der „Cyclist’s
Touring Club“ portraitiert, dessen Vertreter (Consul) Harro
Feddersen in Hamburg war.
Die Tipps des
Handbuches zum Training und zur Ernährung waren vor kurzem bereits
Thema an dieser Stelle (siehe unten), weshalb wir sie hier einmal
übergehen.
Das Buch schließt
mit Ratschlägen für die Auswahl einer „Maschine“, mit knappen
Angaben zum „Sicherheits-Bicycles“ und zum Tricycle, Pflegetipps
und dem Verhalten bein Unfällen. Ganz am Ende folgen noch Vordrucke
für Rennen und für Radvereine.
Das „Handbuch des
Bicycle-Sport“ von Victor Silberer und George Ernst informiert sehr
umfassend über Hochräder, Fahren, Training und Radrennen und bildet
damit eine wichtige fahrradhistorische Quelle der 1880er Jahre. Die
Begeisterung gegenüber den Bicycles ist den beiden Verfassern trotz
des nüchternen Stils eines Handbuches deutlich anzumerken, auch wenn
die Hochzeit der Hochräder nur noch wenige Jahre andauern sollte.
Historische Fahrräder zu sammeln und zu fahren, ist – zumindest in unseren Kreisen – allgemein akzeptiert. Doch wie sieht es eigentlich mit früheren Trainingsmethoden aus? Hat sich einiges bewährt – oder
sind die alten Tipps allesamt veraltet? Die Leserin und der Leser
entscheide selbst. Es folgt eine Auswahl von Zitaten aus dem
„Handbuch des Bicycle-Sport“ aus dem Jahr 1885 von Victor
Silberer und George
Ernst, der wichtigsten
deutschsprachigen Veröffentlichung aus der Blütezeit des Hochrads.
Das Ziel des
Trainings. „Der Zweck des
richtig aufgefassten Training besteht darin, einen Mann zu befähigen,
mit möglichst geringer Gefahr für seinen Organismus eine grosse
Leistung zuwege zu bringen. Ein Mann, der ohne gehörige Präparation
ein ernsthaftes Rennen durchkämpft, wird sich nicht nur während
desselben sehr unbehaglich und überanstrengt fühlen, sondern sein
Körper wird längere Zeit brauchen, um wieder ins Gleichgewicht zu
kommen.“
„Der grosse Zweck
des Training besteht darin, dass jedes Atom des menschlichen
Organismus, welches dabei aufgebraucht wird, durch ein anderes, wenn
auch anders zusammengesetztes Partikelchen, ersetzt wird, das heisst,
das Fett, welches reduciert wird, soll durch eine entsprechende
Zunahme von Muskelfaser compensirt werden.“
Achtung vor dem
Exzesse. „Wenn ein Mensch
während einer Zeitdauer von vier bis sechs Wochen, oder selbst
länger, mässig, nüchtern und in jeder Beziehung enthaltsam
gelebt hat und er gibt sich dann, kaum dass das Rennen vorüber,
jeder Art von Excess hin, wie um das Versäumte möglichst schnell
nachzuholen, so ist die Reaction eine zu plötzliche, als dass der
Körper sie ungestraft ertragen könnte.“
Der Zeitraum des
Trainings. „Die Zeitdauer,
während welcher man trainieren muss, um in Condition zu kommen,
hängt hauptsächlich von der Constitution und dem Temperament ab.
Für einen stark gebauten Menschen, der dazu inclinirt, Fleisch
anzusetzen, sind zwei Monate nicht zu viel, während andererseits für
einen trockenen und mageren Mensche die Hälfte dieser Zeit genügen
kann. Wer die nöthige Zeit und Gelegenheit hat, sich ganz dem
Training zu weihen, wird am besten, wo er gesunde, kräftige Seeluft
oder gute Landluft athmet.“
Vorbereitungen. „Das Training
beginnt gewöhnlich mit einer kleinen Purgirung [=Abführung], um den
Körper innerlich zu reinigen. Es ist dies jedoch durchaus nicht
unumgänglich nothwendig, und besonders nicht dann, wenn der
Betreffende eine ziemlich gleichmässige Lebensweise geführt hat,
und wenn seine Verrichtungen ohnedem regelmässig von Statten gehen.
Sollte dies nicht der Fall sein, so werden einige milde
Rhabarber-Pillen angezeigt sein. Besonders zeitiges Aufstehen ist für
einen Mann in Training nicht zu empfehlen, ausser er war gewohnt, es
immer zu thun.“
Ernährung. „In Betreff der
Nahrung hat man sich gegenwärtig zu halten, dass der Mensch sowohl
ein Herbivore, als auch ein Carnivore sei; die passendste Diät für
ihn besteht daher in einer richtigen Combination von Fleisch und
Gemüsen. Nach dem Bade soll das Frühstück eingenommen werden,
welches aus zwei Tassen nicht zu heissen Thees nebst ein paar
Schnitten gerösteten Brodes – frisches Brod ist unter jeder
Bedingung zu vermeiden – dann aus irgend welchem kalten Fleisch,
mit Ausnahme von Kalb-, Schweine- oder überhaupt geräuchertem
Fleisch, bestehen soll. Am kräftigsten und nahrhaftesten ist
gebratenes Rind- oder Hammelfleisch, doch kann man abwechslungsweise
auch Geflügel, Wild oder Fisch nehmen. Nicht zu starker Thee ist dem
Kaffee vorzuziehen, und kann mit etwas Milch und möglichst wenig
Zucker genommen werden. […] Spinat ist das beste Gemüse, dann
kommen grüne Erbsen und Spargel, doch darf bei der Zubereitung keine
Butter verwendet werden. Gewürze, mit Ausnahme des Salzes, sind
thunlichst zu vermeiden, da dieselben Durst erzeugen und man im
Training den Magen nicht mit Flüssigkeit überschwemmen darf.“
Trinkverhalten. „Was nun die
Getränke anbelangt, so hat man sich überhaupt vor übermässigem
Genuss zu hüten und soll sich daran gewöhnen, blos bei den
Mahlzeiten zu trinken und nicht bei jeder Gelegenheit und bei der
mindesten Anwandlung von Durst ein Gläschen zu trinken.“
„Manche Trainers,
besonders in früherer Zeit, liessen ihre Pfleglinge geradezu Durst
leiden und massen ihnen das Getränke löffelweise zu; dies ist weder
nöthig, noch zuträglich und äussert dieselbe Wirkung auf den
Organismus Desjenigen, der trainiert wird, als wenn man ihm starke
Spirituosen zu trinken gäbe. Beides macht ihn fieberisch, unruhig
und raubt ihm den Schlaf. Der Mann im Training transpirirt ohnedem
stark während der Arbeit, reducirt dadurch den Wassergehalt seines
Körpers in bedeutendem Grade und muss dieser Entgang zum Theile
wieder ersetzt werden, sollen nicht ernsthafte Störungen im
Organismus vorkommen. Die Regel, der man sich also in Bezug auf das
Getränke zu unterziehen hat, lautet kurz: ‘Möglichste Enthaltung
von geistigen Getränken: Einschränkung des Quantums nach den oben
angeführten Grundsätzen und Vermeidung des Trinkens ausserhalb der
Mahlzeiten.’ Am besten dürfte sich als Getränke stark gewässerter
leichter Wein empfehlen, doch kann auch des Abends ein Glas Bier
getrunken werden; Hauptsache bleibt immer, Spirituosen thunlichst zu
vermeiden und die Menge insoferne möglichst einzuschränken, dass
eben dem Magen nur das unbedingt nothwendige Quantum zugeführt und
derselbe nicht mit Flüssigkeit überschwemmt wird.“
Schlaf. “In Bezug auf den
Schlaf ist nicht viel zu sagen; man gehe nicht nach elf Abends zu
Bette und stehe um sechs bis längstens halb acht Uhr wieder auf.
Hauptsache ist, für ein gut ventilirtes Schlafzimmer zu sorgen, denn
nichts ist schädlicher, als das Einathmen verdorbener Luft.“
Das Training selbst. „Wir kommen nun zu
einem der wichtigsten Theile des Trainings, zu Arbeit. In dem
allgemeinen Theile derselben handelt es sich darum, das überflüssige
Fett aus dem Körper zu entfernen; dies kann auf zweierlei Art
geschehen, entweder dadurch, dass man es ausschwitzt oder dass man es
herunter arbeitet.“
Vorbereitung auf
ein Rennen. „Was nun speciell
die Arbeit auf dem Bicycle betrifft, so wird man gut thun, schon vor
Beginn des eigentlichen Trainings möglichst fleissig Partien zu
fahren und dann erst, etwa 14 Tage vor dem Rennen, auf der Fahrbahn
zu trainiren, indem man nach vorausgegangenem Fahren in Mitteltempo,
kleine Concurrenzen mit anderen Fahrern anstellt, denen man Vorgaben
gibt, welche immer etwas grösser bemessen sein sollen, als man sie
wirklich leisten kann. Eine Hauptsache hiebei, sowie während des
Rennens selbst ist, dass man seine Kräfte so eintheilt, dass die
Schnelligkeit sich bis zu Ende des Rennens stetig vermehrt, während
man von Zeit zu Zeit noch kleine Spurts einfliessen lassen lässt.“
„Am Tage vor dem
Rennen macht man ganz wenig Arbeit, ebenso am Tage des Rennens
selbst, wo höchstens eine ganz kurze Fahrt angezeigt erscheint, um
die Muskeln geschmeidiger zu machen.“
***
Vielleicht ist ja
der eine oder andere brauchbare Tipp dabei … Eine ausführliche
Besprechung des Buches folgt bald an dieser Stelle.
Victor
Silberer/George Ernst, Handbuch des Bicycle-Sport. Vollständiger
Reprint, hrsg. und biographischen Angaben ergänzt von Walter
Ulreich. Vorwort Hans-Erhard Lessing, Leipzig: Maxime-Verlag 2004
(Originalaufl. 1885), S. 274-290.
Im November vergangenen Jahres übergab mir der frühere Vorstand des ABC, Dietrich Faust, Gerds alte Radballmaschine, die mich jetzt zu diesem verspäteten und persönlichen Nachruf inspiriert hat. Ich freue mich sehr, dass wir dieses Radball-Fahrrad bei uns im ABC haben und für zukünftige Veranstaltungen, wie die im Mai geplanten Bicycle-Days, nutzen können. Für mich bleibt damit nicht nur ein Stück Radballgeschichte lebendig, denn es wird mich immer an den unglaublich bescheidenen, offenen und liebenswürdigen Menschen Gerd Oberwemmer erinnern.
Als ich an einem Novemberabend 2006 mein erstes Treffen mit ehemaligen Mitgliedern des Altonaer-Bicycle-Clubs von 1869/80 (ABC) habe, fährt er auf seiner Radballmaschine durch die Halle und grinst. Erst viel später erfahre ich, wie erfolgreich Gerd Oberwemmer Radball spielte. An diesem Abend stellt er sich vor, erzählt vom ABC, von gemeinsamen Ausflügen und wie er in den 1960er Jahren, die Radballmaschinen auf dem Autodach festschnallte, um zu Bundesligaspielen zu fahren. Bei unserem nächsten Treffen, saß ich auf dem Rad. Da spürte ich, wie schwer es ist diesen Sport zu erlernen, für den mich der sechsundsiebzigjährige Gerd begeistern wollte. Fahren, Stehen, plötzliche Richtungswechsel, akrobatische Einlagen, Schusstechnik, das erfordert Disziplin ohne Ende.
Während des Radballunterrichts, begann er von sich aus zu erzählen: „Meine Eltern verschickten mich im Krieg aufs Land“. Vermutlich war das 1943 nach den schweren Luftangriffen auf Hamburg. Die sehr umstrittene „Kinderlandverschickung“ sollte Kinder aus luftgefährdeten Gebieten schützen und die Haushaltskasse der Eltern entlasten. In den KLV-Lagern war zudem für eine bessere Ernährung und „gute Volkserziehung“, nach nationalsozialistischem Weltbild, gesorgt. Gerd kam nach dem Krieg zurück nach Hamburg. Wo er war und was er erlebt hatte, darüber wollte er nicht sprechen. Es gab sogar Fälle, wo eine KLV erzwungen wurde. Gerd erinnerte sich, wie er 1945 am Bahnhof Holstenstraße ankam. Seine Eltern wussten nichts von seiner Rückkehr. Vollkommen orientierungslos versuchte er den Weg vom Holstenbahnhof zur elterlichen Wohnung nach Eimsbüttel zu rekonstruieren: „Nur noch Schutt und Asche, ich war vollkommen aufgeschmissen, denn es gab ja keine Straße auf der ich laufen konnte“, erzählte er mir mit Tränen in den Augen.
Mit sechzehn begann er eine Lehre zum Werkzeugmacher. In den 1950er Jahren trat er dem ABC bei. Radball wurde zum Mittelpunkt seines Lebens. Er trainierte jeden Tag. Gemeinsam mit seinem Partner, Erhard Stüber, bestritt er zahlreiche Turniere und Bundesligaspiele. 1969 gehörte das Team, trotz seines vergleichsweise hohen Alters, Oberwemmer 38, Stüber 37, zur Weltklasse. In der Bundesliga schlugen sie die Ex-Weltmeister Wenzel/Bittendorf aus Krofdorf. Auch mit den mehrmaligen tschechischen Weltmeistern und Radsportlegenden, Jan und Jindrich Pospisil, konnten sich die ABCer Radballer messen. Zum 100-jährigen Jubiläum des ABC trafen sie bei einem selbstinszenierten Länderkampf im Saalsport aufeinander, den die Tschechen für sich entschieden.
Gerd arbeitete nach seiner Lehre als Werkzeugmacher bzw. Maschinist in einer Firma in Eimsbüttel. Nach dem Feierabend ging es sofort zum Radballtraining. “In meiner freien Zeit habe ich immer Radball gespielt, es war mir wichtiger als alles Andere“, sagte er in einem Gespräch, das wir 2008 führten. Seine Ehe sei früh daran gescheitert, weil er zu viel trainiert habe, am Wochenende bei den Spielen war und gar keine Zeit für Kinder gehabt hätte; er bedauerte das rückblickend sehr. Dann wurde er krank, konnte sich nicht mehr auf der Radballmaschine halten. Sporadisch hielten wir beide den Kontakt. 2011 informierte mich seine Lebensgefährtin, dass er krank sei. Ich besuchte ihn im Krankenhaus, er beteuerte auf dem Wege der Besserung zu sein. Die Nachricht von seinem Tod, erreichte mich ein paar Tage später.
Hier ein paar Bilder aus Gerds Zeit als aktiver Radballer:
Erhard Stüber und Gerd Oberwemmer in Aktion, 1969.
Beim Länderkampf zwischen der Mannschaft des ABC für Deutschland gegen die CSSR in der ETV-Turnhalle.
Fußballer und Fahrräder? Das klingt heute nach einem Paradoxon, fahren doch die Stars im Fußball-Zirkus bevorzugt sündhaft teure Sportwagen, sei es mit oder ohne Führerschein. Man kann schon fast konstatieren, dass wer als Fußballer heute im Fußball-Business auffallen möchte, entweder ein Buch liest … oder mit dem Fahrrad fährt. Letzteres tat vor einiger Zeit der 2013 vom HSV geschasste österreichische Fußballprofi Paul Scharner („Scharner Paul“), wenn wir einer Boulevardzeitung Glauben schenken dürfen, und pedalierte regelmäßig auf seinem Rad mit Brezellenker von seinem Wohnort in Rahlstedt (!) in den Volkspark. Der aktuelle Kapitän des SC Freiburg, Julian Schuster, soll ebenfalls regelmäßig mit dem Rad zum Training fahren. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntermaßen die Regel.
Beim Torjubel kennt die Fantasie von Fußballern aktuell – im schroffen Gegensatz zu früher – fast keine Grenzen. Da werden imaginäre Pfeile gen Himmel geschossen, das Wappen geküsst, Herzchen mit den Händen gebildet und vieles mehr. Eine isländische Fußballmannschaft dachte sich gar einen Fahrrad-Torjubel aus (den Interessierte hier ansehen können).
Doch kommen wir zur Geschichte. Früher war zwar nicht alles besser, einiges aber schon. Jedenfalls hatten Fußballer früher mehr Berührungspunkte mit Fahrrädern und dem Radfahren. Von den Anhängern des seit den 1920er Jahren sehr populären Fußballs, der in jenem Jahrzehnt den Radsport als Sport Nummer Eins ablöste, ganz zu schweigen, die zu Fuß, per Straßenbahn oder eben auf dem Rad zu den Stadien pilgerten. In der Pionierphase des Fußballs in Deutschland kickten die Protagonisten sogar teilweise in Radrennbahnen wie beispielsweise der SC Victoria Hamburg im Innenraum der Grindelbergbahn in den Jahren 1904-1907. Im Jahr 1907 wurde dann das Stadion Hoheluft eingeweiht und der Verein erhielt ein echtes Fußball-Stadion.
Das Stadion Hoheluft 1920 mit der markanten Holztribüne, die ein Jahr später abbrannte. Zu sehen ist eine “Radpolodemonstration" vor dem eigentlichen Spiel zwischen Victoria und Altona 93 (Quelle: Internationales Radsportarchiv Bad Münstereifel).
Auch das Radballspiel, das der ABC in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreich praktizierte, ist recht offensichtlich vom Fußball inspiriert. Es entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Sage nach soll es der populäre Kunstradfahrer US-amerikanische Nic Kaufmann erfunden haben, als er auf dem Rad einen kleinen Hund „wegkickte“. Das klingt ein wenig ausgedacht, kursiert aber an einschlägigen Stellen wie in einem sehr gerne zu Rate gezogenen Internet-Lexikon. (Kaufmann vermachte übrigens, nebenbei bemerkt, dem ABC 1892 ein Portrait von sich, wie dem ABC-Jahresbericht von 1892 zu entnehmen ist).
Radball - eine Sportart irgendwo zwischen Radfahren und Fußball. Rechts: Gerd Oberwemmer vom ABC. Ende der 1960er Jahre (Quelle unbekannt).
Seit 1911 spielte der Hamburger FC 1888, einer der drei Vorgängervereine des Hamburger Sport-Vereins, in unmittelbarer Nähe zum (wenig später geschlossenen) Velodrom an der Rothenbaumchaussee. Das Anfang der 1920er Jahre ausgebaute Rothenbaum-Stadion mit 30.000 Plätzen diente dem 1919 gegründeten HSV fortan als Heimstätte, inmitten der Stadt gelegen, ganz anders als das Volksparkstadion, das mit Gründung der Bundesliga 1963 dem Diktat des DFB zufolge die neue Spielstätte des Aushängeschilds des Hamburger Fußballs wurde.
Der eine oder andere HSV-Spieler hatte bisweilen auch mit Fahrrädern zu tun. Der schwedische HSVer Otto Carlsson (1901-1982) vertrieb etwa in den 1920er Jahren Nimbus-Fahrräder in Hamburg. Als einer der größten Spieler der Rothosen aller Zeiten gilt Rudolf „Rudi“ Noack (1913-1947). Der Harburger Arbeiter und Seemann war als unangepasst verschrieen, zudem war er tätowiert, was damals noch als ein gesellschaftliches Stigma angesehen wurde. Seinen Oberarm musste er bei Spielen deshalb immer bedeckt halten. Noack war ein begnadeter Techniker und aufgrund seines kreativen Spiels ein, wenn nicht der große Publikumsliebling am Rothenbaum. Wegen seiner Art eckte er aber immer wieder auch bei den HSV-Verantwortlichen an.
Besonders interessieren dürften an dieser Stelle die Umstände seines Vereinswechsels zu Beginn der 1930er Jahre: „Am Rothenbaum nahm der Arbeitslose im Juni 1932 - per Fahrrad! - mit seinem Harburger Kumpel Richard Dörfel Reißaus, um sich im ‘Goldenen Westen’ dem CfR [=Club für Rasenspiele] Köln anzuschließen.“ (Skrentny/Prüß, S. 88) Mit dem Vater des späteren HSV-Spielers Charly Dörfel pedalierte Noack also von der Elbe an den Rhein, um dort sein Glück zu versuchen. Der so talentierte Fußballer Rudi Noack starb viel zu früh 1947 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Auch bei anderen Vereinen wird es sicherlich ähnliche Anekdoten gegeben haben. Für Altona 93 konnte ich bislang leider keine entsprechende Geschichte ermitteln. In Bezug auf den FC St. Pauli ist mir bis dato ebenfalls nichts dergleichen bekannt. Aber vielleicht weiß der eine oder andere ja noch etwas über Fußballer, die Fahrrad fuhren? Falls ja, würde ich mich über Nachrichten und Kommentare freuen. (lars ÄT altonaer-bicycle-club.de).
Literatur: Norbert Carsten, Altona 93. 111 Ligajahre im Auf und Ab, Göttingen: Die Werkstatt, 2003; Werner Skrentny/Jens R. Prüß, Immer erste Klasse. Die Geschichte des Hamburger SV, Göttingen: Die Werkstatt, 2007.
Mario Bäumer/Museum der Arbeit (Hrsg.), Das Fahrrad. Kultur – Technik – Mobilität, Hamburg: Junius, 2014.
Knapp vorstellt werden soll an dieser Stelle der Ausstellungskatalog der Fahrrad-Ausstellung des Museums der Arbeit. Der Band enthält zahlreiche Beiträge über die Geschichte des Fahrrads und des Radsports und informiert ebenso über aktuelle Entwicklungen unter dem Stichwort „Mobilität“. Die Themen sind Technikgeschichte des Fahrrads, Unternehmensgeschichte, Radsport, Design, Radreisen, Fahrräder in der Kunst, Fahrradkuriere, Fahrrad-Filme usw. Mit Olli Leibbrand und Lars Amenda sind auch zwei ABCer mit Artikeln vertreten (über den ABC und Arbeiterradsport, sowie historische Radreisen). Das Buch ist überaus reich bebildert und sehr schön gestaltet – ein Blick ins Buch, oder auch mehrere, lohnt sich.
Der massive Boom des Radsports auf der Bahn und auf der Straße in den frühen 1890er Jahren befeuerte die Produktion von Fahrrädern. Aber nicht nur das. In jenen Jahren wurden bereits erste fest installierte Trainings-Fahrräder für, nun ja, „Indoor-Cycling“ entwickelt und auf den Markt gebracht. Moriz Band notierte dazu 1895: „Für die Winterzeit, in der das Radfahren auf die gedeckten Hallen der Vereine beschränkt ist, haben ingeniöse (= erfinderische) Fabricanten Trainir-Apparate construiert, welche eine Fortsetzung der körperlichen Thätigkeit in der ‘saison morte’ gestatten.“ (Band, S. 146) Rollen-Training auf „Hometrainern“ setzte also schon sehr früh ein und bei den ersten Apparaten konnte bereits der Widerstand der Rollen erhöht oder verringert werden. Die auf der Stelle und auf der Rolle Trainierenden mussten allerdings vor 1900 – und auch noch lange danach – bekanntermaßen auf die Segnungen von Film und Fernsehen während ihrer Einheiten verzichten.
Band (1895), S. 145.
Nicht nur Radsportler waren die Adressaten dieser Konstruktionen. Theodor Schiefferdecker lobte 1900 die Vorzüge des hölzernen „Zimmerfahrradapparats“ für Personen, „welche ihre Muskeln und ihr Herz erst durch allmähliche Übung zu der Leistungsfähigkeit erziehen wollen, welche für das Fahrrad notwendig ist, ferner für solche Leute, welche entweder nur ein Bein zum Treten benutzen können (auch solche können allerdings unter Umständen radfahren), oder welche übermässige Fettleibigkeit durch die Übung erst verringern wollen, dass sie nachher ein Fahrrad zu benutzen vermögen“. (Schiefferdecker, S. 460) Auch untrainierte Personen sollten auf diese Weise ihre Fitness langsam und behutsam steigern können.
Schiefferdecker (1900), S. 461.
Bevor wir uns gleich mit großen Schritten dem eigentlichen Thema nähern werden, möchte ich eine weitere Vorrichtung – fast hätte ich „Abart“ geschrieben – vorstellen, die sich aus mir unerfindlichen Gründen nicht hat durchsetzen können:
Das „Fahrrad-Bad“ (Daul (1906), S. 26).
Dieses sollte zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen und praktischerweise die körperliche Ertüchtigung mit sofortiger Körperhygiene verbinden. Anton Daul schrieb 1906 über die neuartige Interaktivität dieser pro-aktiven und durch und durch sportlichen Dusche: „Wenn der Velozipedist den rückwärts befindlichen Hahn andreht, kann er, je nachdem er die Pedale in Bewegung bringt, sich ein ein langsameres oder rascheres Schauerbad bereiten, und wenn er den Hahn zudreht, dasselbe beliebig wieder beenden.“ (Daul, S. 26)
Nun denn. Kommen wir zum Höhepunkt dieses Artikels. Der Hype um Radsport insbesondere im Frankreich der 1890er Jahre zeigte sich nicht nur auf den Radbahnen und bei den ersten Radrennen wie dem sehr einflussreichen „Paris – Brest _ Paris“ (1891), er manifestierte sich auch alsbald in der Alltagskultur. Laut Anton Daul wurde auf einer (nicht näher bezeichneten und datierten) Ausstellung in Genf ein überdachter „Apparat“ präsentiert, auf dem Radfahrer ihr Gefährt auf drei Rollen auf der Stelle fahren konnten und das mit einem „Zifferblatte“ versehen war, auf dem die virtuelle Geschwindigkeit angezeigt wurde. Im Pariser Park „Boie de Boulogne“ war diese Vorrichtung dann später der Öffentlichkeit zugänglich und erregte „die Aufmerksamkeit der Radfahrenden beiderlei Geschlechter“. (Daul, S. 36) Diese Version des Hau-den-Lukas für Fahrradfahrer belustigte ganz offensichtlich das Publikum, nicht zuletzt weil sich jeder und jede selber und höchstpersönlich wagemutig auf den Sattel schwingen konnte, um den Schaulustigen nach Möglichkeit zu imponieren – oder bei eben zu blamieren, falls die Beine doch nicht ganz so kraftvoll waren.
Bei dem „Rollen-Spiel“ per Fahrrad vermischte sich Wettstreit und Unterhaltung, was so gut ankam, dass einige Personen diese Idee noch weiter verfeinerten. Ein solcher findiger Geist war Clovis Clère, der als Direktor das bekannte Cabaret „Folies-Bergères“ in Paris leitete. Er ließ nicht nur ein Velodrom im Pariser Stadtteil Charenton bauen, sondern veranstaltete „in seinem Nachtclub Wettkämpfe auf Rollen“. (Maso, S. 22) Bei dem Etablissement handelte es sich wohl um den „Salon du Cycle“, wo Wettrennen auf der Rolle von mehreren Fahrern simuliert wurden. Vier „Rennfahrer“ konnten nebeneinander antreten und in die Pedale ihres Fahrrads treten, woraufhin die Kraft des jeweiligen Pedlalierenden auf vier kleine Radfahrer-Figuren in einer Art Miniatur-Velodrom übertragen wurde.
Daul (1906), S. 37.
„Auf ein Pistolenzeichen begannen sich sofort die Walzen zu drehen. Die Radfahrer begannen darauf erst langsam zu treten, beschleunigten das Treten ihrer Pedale, und demgemäß bewegten sich dann auch die Miniaturfigürchen auf der langen Tafel, vollständig die Bewegungen der Radfahrer nachmachend. Endlich war die Aufgabe erreicht, und da war dann ein Triumph, ein lärmender Applaus! Die wirklichen Wettfahrer verschwanden, nachdem sie mit ihren Miniatur-Nachahmern die vorgeschriebenen 24 Meilen 'durchgetreten’ hatten, und machten wieder einer gleichen Anzahl von Radfahrern Platz.“ (Daul, S. 38) Aufgrund der Übertragung auf die kleine Radrennbahn erhielten die Fahrten im „Cyclodrom“ einen echten Wettstreit-Charakter und sorgten, wie im vorangegangenen Zitat wiedergegeben, für eine aufgekratzte Stimmung. Die Zuschauer konnten nicht nur die schwitzenden und sich verausgabenden Fahrer aus nächster Nähe bewundern, falls dies von ihnen erwünscht gewesen sein sollte, sie konnten auch das Renngeschehen wie auf einer „Carrera-Bahn“ verfolgen, was ein gelungener Gag war, der allgemeinen Radrenn-Begeisterung frönte und diese gleichzeitig ein wenig ironisierte. Das Cyclodrom spiegelte den Enthusiasmus für tatsächliche Radrennen wider und sorgte auf spielerische Weise für eine sportliche Unterhaltung im Paris des Fin de Siècle.
Ähnliche „Radrennen“ und Inszenierungen haben in der Folge auch andernorts stattgefunden. Die Idee war als Unterhaltungsprogramm in der frühen Blütezeit des Radsports einfach zu attraktiv. Eine schöne Postkarte ist bei Lebeck (Das Zweirad, S. 115) reproduziert, die ein „Radrennen auf der Bühne“ um 1900 zeigt. Zu sehen ist „Claire Porté“ - „Champion Cyclistin von 'Süd-Russland’, assistiert von dem bekannten Motorrennfahrer Willy Porté“. Beide Fahren auf Rollen, links von Ihnen ist ein riesiges Ziffernblatt zu sehen. Auch wenn es sich bei den Portés um ein Paar handelte, war der Anblick einer sich verausgabenden Radfahrerin auf der Rolle und auf der Bühne für die anwesenden Herren vermutlich besonders reizvoll.
Auch für Hamburg existiert ein nicht ganz uninteressanter Hinweis. Erich Witt schreibt in seiner Chronik des Hamburger Radsports 1933: „Der Vollständigkeit halber sei hier noch ein großes Hometrainerrennen erwähnt, welches 1909 in der Altonaer Flora allabendlich große Zuschauermengen anlockte. Aus einem erlesenen Felde wie Robl, Arend, Rüdiger, Altohoff, Stabe, Techmer, Tetzlaff, Sonntag – Deutschland, Kudela – Österreich, Carapezzi – Italien u. a. siegte der Hannoveraner Willi Arend.“ (Witt, S. 107) In dem damaligen Flora-Theater wurde also ein internationales Turnier ausgetragen, was Witt zufolge beim Publikum sehr gut ankam. Auch hier vermischte sich Sport und Unterhaltung auf engste Weise und auch die Hamburger (und Altonaer) fieberten mit und amüsierten sich beim Anblick dieses Radrennens auf der Rolle, auch wenn – vielleicht gerade deshalb – die Rennfahrer nicht von der Stelle kamen.
Quellen und Literatur: Moriz Band, Handbuch des Radfahr-Sport. Technik und Praxis des Fahrrades und des Radfahrens, Lemgo: Johann Kleine Vennekate Verlag, 2013 (Erstaufl. 1895), S. 145-148; Anton Daul, Illustrierte Geschichte der Erfindung des Fahrrades und der Entwicklung des Motorfahrradwesens. Mit einem Nachwort von Gert Schellenberg, Nachdruck, Lindau: Antiqua-Verlag, o.J. (Erstaufl. Dresden: Verlag von R. Creutz, 1906); Robert Lebeck (Hrsg.), Das Zweirad. Postkarten aus alter Zeit. Mit einem Nachwort von Jost Pietsch, Harenberg: Dortmund, 1981 (Die bibliophilen Taschenbücher, Nr. 242); Benjo Maso, Der Schweiß der Götter. Die Geschichte des Radsports, Bielefeld: Covadonga, 2011; P. Schiefferdecker, Das Radfahren und sein Hygiene. Nebst einem Anhang: Das Recht des Radfahrers von Professor Dr. jur. Schumacher. Mit 328 in den Text gedruckten Abbildungen, o. O. 1900 (als Reprint hrsg. von Hans-Erhard Lessing, Fahrrakultur 1: Der Höhepunkt um 1900, Reinbek: Rowohlt, 1982); Erich Witt, Radfahrsport, in: H(einrich) Hasperg (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sport in Hamburg, Hamburg: Br. Sachse, o. J. (1933), S. 102-110.
Tim Moore, Gironimo! Ein Mann, ein Rad und die härteste Italien-Rundfahrt aller Zeiten, Bielefeld: Covadonga Verlag, 2014, 378 S., 14,80 EUR.
Von Lars Amenda
Gegenwärtig wird gerne der Blick in die Vergangenheit geworfen und diese dabei nicht selten verklärt, nicht nur aber gerade auch in der Welt des Fahrrads. Junge Erwachsene aus den Metropolen bevorzugen klassische Rennräder, etwas ältere Erwachsene treffen sich zu nostalgischen Ausfahrten, etwa bei der L’Eroica im italienischen Gaiole und bei den mittlerweile nicht wenigen Retro-Veranstaltungen rund ums Velo.
Der abenteuerlustige englische Schriftsteller Tim Moore, der bereits vor mehreren Jahren eine komplette private Tour de France-Rundfahrt bewältigte und gemeinsam mit einem Esel auf dem Jakobsweg pilgerte, ging einige Schritte weiter und schrieb das vorliegende Buch über sein gewagtes Unterfangen. In einem gegenwartskritischen Moment suchte er im Internet nach dem härtesten Radrennen der Geschichte – und stieß auf den Giro d’Italia des Jahres 1914. Über einige Umwege besorgte er sich ein hundert Jahre altes Rennrad, restaurierte dieses französische Exemplar der Marke „Hirondelle“ (Schwalbe) liebevoll und beschloss in einem Anflug von Übermut, vielleicht war es auch Größenwahn, den Giro 1914 mit seiner Gesamtlänge von 3.162 Kilometern auf seinem museumsreifen Gefährt und mit einer entsprechenden Aufmachung („Deppenmütze“ und „Deppenbrille“) nachzufahren. Herausgekommen ist ein höchst unterhaltsames Buch, das eine nicht abreißende Liste von Pleiten, Pech und Pannen äußerst selbstironisch präsentiert und gleichzeitig dem Radsport vergangener Zeiten und den heute zumeist vergessenen Protagonisten der Pionierzeit huldigt.
„Was waren das doch für Kerle!“, entlockt es Tim Moore regelmäßig auf seinem persönlichen, beschwerlichen Radrennen durch Italien. Der Giro 1914 hatte es in der Tat in sich, wie Tim Moore seiner wichtigsten Informationsquelle, einer Abhandlung von Paolo Facchinetti entnehmen kann: “81 Männer fuhren los, und nur acht kamen an. Schreckliche Witterungsbedingungen, fürchterliche Straßen und 400 Kilometer lange Etappen erwiesen sich selbst für die größten Champions von il ciclismo eroico als zuviel …“ Tim Moore erlebt die Torturen der damaligen Beteiligten zwar nicht in ihrer ganzen Härte, er nähert sich diesen aber zumindest an und schreibt auf diese Weise ein ungewöhnliches, um so lebendigeres Radsport-Geschichtsbuch. Von Mailand aus begibt er sich auf die Spuren des Rennens und folgt dem Streckenlauf mit einem, nun ja, höchst modernen Navigationsgerät., was nicht allzu heroisch ist, wie er selber zugeben muss. Diesen kleinen Makel gleicht er aber durch das Fehlen einer Gangschaltung aus, wobei das Hinterrad „immerhin“ über zwei Ritzel verfügte, womit zumindest ein Gang etwas „bergtauglicher“ als der andere war. Und, nicht zu vergessen, die Holzfelgen, die mit Bremsbelägen aus Kork versehen sind, was die Bremskraft im Vergleich zu zeitgemäßen Vorrichtungen dramatisch verringert.
„Riding the Very Terrible 1914 Tour of Italy“, lautet der Untertitel des englischen Originals, das sehr gut von Olaf Bentkämper übersetzt worden ist und erstaunlich direkt den überquellenden und beißenden Humor des Erzählers transportiert. In dem Buch jagt wirklich ein Gang den nächsten, es ist ohne Übertreibung eine Humor-Orgie. Tim Moore lästert über die Italiener, die „schlechtesten Autofahrer der Welt“, und tut dies auf so liebevolle Weise, dass man es ihm kaum übel nehmen kann. Er hat aber auch kein Problem damit, oder besser gesagt: es ist ihm ein Bedürfnis, sich selber als Narren zu inszenieren. Kurz nach Beginn bricht ihm die Spitze seines uralten Ledersattels ab. In einem trostlosen Industriegebiet findet er bei „Pepebike“ vergleichsweise modernen Ersatz: „Sollte ich noch ein weiteres Kind zeugen, gelobe ich hiermit feierlich, es Pepebike zu taufen. Aber nach dem, was ich an diesem Tage durchgemacht habe, glaube ich kaum, dass ich noch einmal zum Zuge kommen werde.“ Die Fahrt hinauf in die in den Alpen, nach Sestriere, verlangt Tim Moore nicht weniger Leidensfähigkeit ab, ganz zu schweigen von den anschließenden Abfahrten auf dem hundert Jahre alten und wenig alltagstauglichem Material bei Geschwindigkeiten von 60 km/h.
Während der Verfasser mit seiner mangelnden Fitness kämpft, porträtiert er die Fahrer des Jahres 1914 wie den späteren Sieger Alfonso Calzolari, aber auch die abgeschlagenen und ausgeschiedenen Teilnehmer. Das Buch pendelt perspektivisch immer wieder zwischen den gegenwärtigen Mühen und den unmenschlichen Anforderungen des Jahres 1914. Mister Moore fährt die Etappen trotz großer Anstrengungen allerdings in mehreren Tagen und dokumentiert damit, welche riesengroßen Strapazen seine Vorbilder auf sich nehmen mussten, denen keine langen Pausen während der acht Etappen und nächtliche Ruhe nur nach diesen vergönnt war.
Auf seiner radsportlichen Zeitreise charakterisiert Tim Moore auch Land und Leute und unterstreicht auf seinem Weg Richtung Süden die wirtschaftlichen und kulturellen Gegensätze Italiens. Mit der Zeit wird er körperlich fitter und kann sich hin und wieder kleine Rennen mit anderen Radsportlern liefern und dabei dem Motto seines Buches „Gironimo!“, einem Wortspiel abgeleitet vom Schlachtruf „Geronimo!“, ein wenig gerecht werden.
Mit jedem Kilometer und mit jeder Seite wächst die Hochachtung vor den Radsportlern vor hundert Jahren, trotz der Tatsache, dass sie angesichts der körperlichen und mentalen Zumutungen auch damals bereits zu „Hilfsmitteln“ wie Alkohol und Aufputschmitteln griffen. Tim Moore verbindet in seinem Buch eigene Leiden und übersprudelnden Humor auf erstaunliche und gelungene Weise. Er setzt der Geschichte des Radsportsports ein eigenes, sehr persönliches Denkmal und macht dies auf solch unterhaltsame Weise, dass der Leser, so ging es zumindest mir, das Buch kaum aus der Hand legen möchte und, falls doch, sich auf die weitere Lektüre freuen darf.
Holmer Stahncke, Altona. Geschichte einer Stadt, Hamburg: Ellert & Richter Verlag, 2014, 384 S., 19,95 EUR.
Von Lars Amenda
Der erste, flüchtige Blick ins Buch endet mit einer kleinen Enttäuschung. Im umfangreichen 16-seitigen Stichwortverzeichnis wird der Altonaer Bicycle-Club … nicht erwähnt. Nun war und ist der ABC sicherlich nicht der Nabel und eine Nichtnennung somit verzeihlich. Geben wir der anlässlich des 350-jährigen Stadtjubiläums erschienenen Publikation also eine zweite Chance. Und diese nutzt das von Holmer Stahncke verfasste Porträt der einstmals eigenständigen Stadt und des heutigen Hamburger Stadtteils eindrucksvoll. Die reiche und vielschichtige Altonaer Geschichte wird kompakt und doch umfangreich genug ausgebreitet, das gut geschriebene Buch kann zudem mit zahlreichen Abbildungen aufwarten, was die Lektüre erfrischt.
Von Anfang an entwickelte sich Altona im Schatten und im Spannungsfeld zu Hamburg. Es begann 1536 mit der beim heutigen Pepermöhlenbek gelegenen Kneipe von Joachim von Lohe, welche die Hamburger Stadtväter vergeblich zu verhindern versuchten. Der Sage nach habe der Krug „All to nah“ geheißen, weil er sich eben allzu nah an der Grenze zu Hamburg befand; tatsächlich hatte der Name „Altona“ wohl einen anderen Hintergrund und geht vermutlich auf „Altenau“ zurück, was „altes Wasser“ bedeutet. Altona wuchs jedenfalls trotz der Hamburger Widerstände und erhielt 1664 vom dänischen König Friedrich III. das Stadtrecht. Im 18. Jahrhundert erlebte die Stadt unter der dänischen Herrschaft, vor allem durch den Fernhandel bedingt, einen wirtschaftlichen Aufschwung, der zu einem „goldenen Zeitalter“ führte. Die Einwohnerzahlen stiegen in dieser Zeit ebenfalls auf 24.000 um 1800. Im 17. Jahrhundert bildete sich bereits eine bedeutende jüdische Gemeinde, verstärkt durch vertriebene portugiesische Juden (Sepharden), wovon heute nur noch der Friedhof an der Königstraße zeugt.
Mit dem Ende des preußisch-dänischen Krieges wurde Altona 1864 preußisch, wobei die Altonaer Bevölkerung sich mehrheitlich weniger preußisch als holsteinisch fühlte. Altona erlebte in den anschließenden Jahrzehnten eine erhebliche Industrialisierung, was durch die Eingemeindung Ottensens (neben Bahrenfeld und Övelgönne) signifikant verstärkt wurde. In Altona und insbesondere Ottensen befand das Zentrum der Fisch verarbeitenden Industrie in Deutschland, neben anderen Industrien wie der Eisenverarbeitung und der Tabakindustrie.
Nach dem sozialdemokratisch geprägten „Neuen Altona“ unter dem Oberbürgermeister Max Brauer in den 1920er Jahren beendeten die Nationalsozialisten die Eigenständigkeit der Stadt, indem sie diese im Zuge des „Groß-Hamburg-Gesetzes“ 1936/37 dem großen Nachbarn zuteilten. Altona wurde damit zum Hamburger Stadtteil degradiert und viele Straßen mussten in der Folge umbenannt werden. Der Bombenkrieg löschte dann im Zweiten Weltkrieg das Herz Altonas, die zwischen Bahnhof und St. Pauli gelegene Altstadt nahezu komplett aus.
Holmer Stahncke erzählt die Geschichte der Stadt auf unterhaltsame Weise und verzahnt diese gekonnt mit der Hamburger und dänischen Entwicklung, wie auch mit der „größeren Geschichte“. Sein Fokus liegt vor allem auf der Politik und der Wirtschaft, ebenso wie auf der baulichen Entwicklung. Ich vermisse ein wenig eine stärker kulturgeschichtliche Perspektive; über die Alltagskultur der Bevölkerung wie auch über die große Sport-Begeisterung finden sich nur spärliche Informationen. Über das Gründungsmitglied des DFB, Altona 93, verliert der Verfasser lediglich eine knappe Randnotiz. Der große Altonaer Fußballer und Nationalspieler Adolf Jäger wird mit keinem einzigen Wort erwähnt. Ohne Sport, so meine vorsichtig in den Raum geworfene These, lässt sich jedoch die Gesellschaft des 19. und 20. (ebenso wie des 21.) Jahrhunderts kaum hinreichend verstehen. Auch die vielen „Gastarbeiter“, die Altona seit den 1960er Jahren entscheidend mitprägten, hätten sicherlich mehr als zwei Sätze verdient gehabt (S. 335).
Trotz dieser Kritik weiß das Buch aber zu gefallen und wird die nächsten Jahre zu Recht das Standardwerk über die Altonaer Stadtgeschichte sein. In einer Zeit, in der sich Altona rasant wandelt, was Holmer Stahncke unter dem Stichwort „Gentrifizierung“ ebenfalls diskutiert und in die längere historische Perspektive einordnet, kann der Blick zurück sicherlich nicht schaden.