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„Es flog nur so darüber hinweg“ – mit dem Dreirad auf der Elbe

Unser erster Vorsitzender, Harro Feddersen, wagte im Winter 1870 zum ersten Mal eine Dreiradfahrt auf der zugefrorenen Elbe. Zunächst versuchte er es auf einem Velociped mit zwei Holzrädern mit Eisenzacken, später auf einem Quadrant-Dreirad mit Luftgummi-Reifen. In der Eckernförder Zeitung berichtete Feddersen wie es ihm dabei erging:

Das erste Mal vor nunmehr 20 Jahren im Winter 1870 bis 1871, benutze ich ein Velociped mit zwei Holzrädern, die ich mit eisernen Zacken versehen hatte. Ich kam aber damals nicht weit. Mit den Worten „Bahngeld, meine Herren!“ warf mir ein sog. Bahnfeger einen Besen vors Rad und ich kam so schändlich zu Fall, dass ich völlig von dem Vergnügen genug hatte. Ich benutze diesmal ein Quadrant-Dreirad mit Luftgummi-Reifen und wenn ich auch mein Ziel, die „Augusta Victoria“, nicht völlig erreicht habe, da dieselbe bereits wieder freigekommen und weiter abwärts gedampft war, so bin ich doch ein ziemlich Stück auf dem Strom, vom Quai ab bis Nienstedten, gefahren und bei Finkenwärder quer hinüber bis an die Fahrrinne, wo ich eine Zeitlang den Schlepper „Goliath“ mit einem Leichter „Emilie“ im Schlepptau, Seite an Seite begleitet habe. In der Mitte des Stromes sind teilweise so glatte Flächen – besonders Teufelsbrücke gegenüber – wie eine Rennbahn. Es flog nur so darüber hinweg. Einen komischen Eindruck machen die Herren Elbjäger, die, in Bettlaken eingemummt, wie die Beduinen hinter den hohen Eissschollen hockten und Feuer gaben auf Alles was da fleuchte. Es schien aber viel Knallen und wenig Federn zu sein. Gleich nach meiner Heimfahrt gingen die Eisbrecher wieder an die Arbeit, um alles bei Mühlenberg herum kurz und klein zu machen. Es war ein ziemlicher Verkehr zwischen Altona und Finkenwärder auf Handschlitten, die die Fährrinne per Eisboot passirten.“

Quelle: Eckernförder Zeitung ca. 1890, ohne Datum, in: Die Entstehung und Entwicklung des Altonaer-Bicycle-Clubs von 1869/80, Altona 1894, S. 23 bis 24.

In seinen Läden in der Palmaille 20 und Große Mühlenstraße 98, bot Feddersen als alleiniger Vertreter Quadrant-Fahrräder an. Die Firma Quadrant Cycle Co. Ltd fertigte in Birmingham und hatte sich zunächst auf Tricycles spezialisiert. http://de.wikipedia.org/wiki/Quadrant_Cycle

Quelle Anzeige: Programm des Rennvereins Hamburg-Altonaer Radfahrer, 1889.

Bargum/NF, 17. April 2014 / Olli

EIN VEREIN FEIERT SICH SELBST

Das „25-jährige Stiftungs-Fest“ des Altonaer Bicycle-Clubs von 1869/80 vom 14. bis 16. April 1894

Von Lars Amenda

Feste und Feierlichkeiten bieten die willkommene Gelegenheit, sich mit Familienangehörigen oder Freunden zu treffen, gemeinsam zu essen und trinken, zu tanzen, zu reden und zu diskutieren und mit der temporären Gemeinschaft der Feiernden eine gute Zeit zu verbringen. Feste dienen aber gleichzeitig auch der Selbstdarstellung, der Repräsentation und sollen den oder die Veranstalter in einem möglichst vorteilhaften Licht erscheinen lassen. Anlässlich des 145-jährigen Bestehens des ABC möchte ich mit diesen Zeilen die Feierlichkeiten des Clubs zum 25-jährigen Jubiläum 1894 vorstellen und einordnen. Was ließ sich der Verein seinerzeit einfallen und was tischte er seinen Gästen auf, um sich selbst zu feiern und die eigene Bedeutung zu untermauern?

Nach der rückwirkenden Umbenennung in „Altonaer Bicycle-Club von 1869/80“ im Jahr 1881 erlebte der Verein einen spürbaren Aufschwung und seine Mitgliederzahlen stiegen deutlich an. Der Jahresbericht von 1892 listet bereits 88 männliche Mitglieder auf (unter ihnen viele Kaufleute, aber auch Lehrer, Fabrikanten, Weinhändler, und ein „Reisender“); 1893/94 überschritt die Mitgliederzahl dann die Marke von 100. Frauen waren zu dieser Zeit von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, die Herren wollten lieber unter sich bleiben. Der ABC verfügte zu dieser Zeit über einen ausgezeichneten Ruf im Bürgertum und verstand sich als eine sportliche und soziale Elite. Während die Allgemeinheit die pionierhaften Vorreiter des Vereins auf ihren Velozipeden noch als weltfremde Narren erachtete, etablierte sich das Fahrrad mit dem Hochrad und schließlich dem luftbereiften „Niederrad“ Anfang der 1890er endgültig, ohne zu diesem Zeitpunkt für die Mehrheit der Bevölkerung erschwinglich zu sein.

In genau diese fahrradhistorische Situation fiel das 25-jährige Jubiläum des ABC im April 1894 und die Mitglieder wollten die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen, mit einem prunkvollen Fest den Nimbus des Vereins in der Öffentlichkeit zu demonstrieren und nach Möglichkeit noch weiter auszubauen. Und der ABC ließ sich einiges einfallen. Nicht weniger als drei Tage dauerte das „25-jährige Stiftungs-Fest“, auf dem die Mitglieder und die teils eingeladenen, teils zahlenden Gäste eine Menge geboten bekamen. Das Fest begann bereits am Sonnabend, den 14. April, mit einem abendlichen „Grosse[n] Fest-Commers“, einer hochoffiziellen Feier mit Festrede und gemeinsam gesungenen und teilweise extra gedichteten Liedern. Veranstaltungsort war der „Germania-Saal“, dessen Besitzer Fritz Hensler Mitglied und „Fahrwart“ im ABC war, in der Großen Freiheit Nr. 14, die damals noch zu Altona gehörte und direkt an der hamburgischen Grenze lag. Der ABC-Vorsitzende Gregers Nissen begrüßte die „äußert zahlreich von Nah und Ferne erschienenen Festtheilnehmer“. (Die genaue Zahl der Teilnehmer ist nicht bekannt, aber insgesamt dürften an den drei Festtagen etliche hundert bis mehrere tausend Menschen beteiligt gewesen sein). Neben zahlreichen Grußbotschaften anderer Rad- und Sportvereine, verschiedenen humoristischen Einlagen wurde auch das ein oder andere alkoholische Getränk konsumiert. So war in der Zeitung zu lesen: „Die Stimmung war eine sehr gehobene und das Eröffnungsfest verlief erst mit Morgengrauen in der schönsten Weise zu allseitiger Befriedigung.“

Anlässlich des „Fest-Commers“ ließ der ABC eine prunkvoll gestaltete „Commers Zeitung“ erstellen (diese werden wir in einiger Zeit hier noch einmal ausführlicher vorstellen). Darin enthalten waren zahlreiche Trinksprüche, viele Gags mit und ohne Radfahrer und mehr oder minderer deutliche Hinweise auf den gemeinschaftlichen Genuss geistiger Getränke. Zudem verteilte der ABC am ersten Festtag eine Vereinschronik an die Teilnehmer, die bis heute eine zentrale Quelle zur Clubgeschichte darstellt.

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Titel der aufwändig gestalteten “Commers Zeitung”

Am folgenden Tag, dem 15. April, fand eine Dampferfahrt nach Blankenese mit anschließendem Fußmarsch zum Süllberg statt; viele Radfahrer machten sich direkt dorthin auf den Weg. Am Nachmittag folgte ein „Grosser Preis-Corso“ und führte die beteiligten feierlich geschmückten Radfahrer – unter ihnen viele Repräsentanten auswärtiger Fahrradvereine, die dem ABC damit die Ehre erwiesen – durch die Straßen der Altonaer Altstadt, durch die Allee (Max-Brauer-Allee), Goethestraße, Poststraße, Behnstraße, Königstraße, Große Prinzenstraße, Große Mühlenstraße und die Palmaille. Der ABC präsentierte sich damit in seinem ureigenen Element, auf dem Fahrrad und in den Straßen der Altonaer Altstadt, er wies aber auch auf die nationale Bedeutung des Vereins hin, welche durch die auswärtige Unterstützung zum Ausdruck kam. Der „Corso-Ausschuss“ veröffentlichte im Vorfeld einen Aufruf in der Presse, in dem die Anwohner der entsprechenden Straßen „freundlichst“ gebeten wurden, ihre Häuser mit Flaggen und Girlanden festlich zu schmücken. Nicht nur der Umzug der Radfahrer sollte ein prächtiges Bild abgeben, sondern die Bevölkerung vor Ort sollte nach dem Willen der Verantwortlichen eingebunden werden und maßgeblich zum beeindruckenden Gesamtbild beitragen.

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Der ABC-MItbegründer Harro Feddersen in den 1880er Jahren

Vom Sammelpunkt am Bahnhof Holstenstraße setzte sich der Zug in Gang, der ein wahrhaft ungewöhnlichen Anblick bot.„Die Fahrer des Altonaer Jubiläumsclub hatten sich neue blausammtne Costüme angeschafft; die Speichen ihrer Räder waren mit farbigen Blumen geschmückt, ebenso diejenigen einzelner anderer Vereine.“ Verschiedene Wagen („Equipagen“) waren Teil des Umzuges, der Mitbegründer des Clubs Harro Feddersen saß mit seiner „Gemahlin“ in einem von vier Schimmeln gezogenen Wagen und unterstrich damit seine herausragende und gewichtige Rolle in der Vereinsgeschichte. Ein „Trompetercorps der Artillerieabtheilung“ („in prachtvollen Wallenstein-Kostümen zu Pferde“) begleitete den Umzug und sorgte für musikalische Untermalung, so darf vermutet werden. „Der Festwagen des Zuges, eine Radfahrergruppe überragt von einer Germania mit Schwert und Schild, machte durch seine reiche Decoration mit lebenden Pflanzen, Palmenwedeln, Fahnen und Standarten einen ganz besonders festlichen Eindruck und erregte die Bewunderung aller Zuschauer.“ Nationale Symbolik durfte nach dem Willen der Beteiligten folglich nicht fehlen und sollte die nationale Einstellung der Clubmitglieder verdeutlichen. An der Spitze des Zuges fuhren drei Radfahrer auf Rädern aus den Jahren 1817, 1869 und 1894, also einem Draisschen Laufrad, einem Veloziped und einem damals aktuellen Fahrrad („ein hochmodernes Stahlroß mit allen Verbesserungen der jüngsten Zeit“). Der ABC betrieb auf diese Fahrrad-„Geschichtsschreibung“ und feierte die technische Entwicklung des Fahrrades im 19. Jahrhundert, die viele ABC-Mitglieder auf ihren „Knochenschüttlern“ am eigenen Leibe erfahren hatten.

Abends folgte ein Bankett und ein Ball in den Räumlichkeiten des Bürgervereins, auf dem u. a. die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft im ABC an Harro Feddersen und Carl Hindenburg, Vorsitzender des Deutschen Radfahrer-Bundes, verkündet wurde. Die beiden Personen waren die ersten Ehrenmitglieder des Vereins.

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Am folgenden Tag, dem 16. April, dem dritten und letzten Festtage frühstückten die Teilnehmer zusammen und machten auf einem gemieteten Dampfer eine Hafenrundfahrt, einen Spaziergang durch die Altonaer und Hamburger Innenstadt, eine Alsterfahrt und speisten zu Mittag zusammen im Uhlenhorster Fährhaus. Abends folgte ein „Gr. Gala-Radfahr-Fest“ in den Räumlichkeiten des Englischen Gartens in Altona mit dem „Auftreten der berühmtesten Kunst-, Duett- und Reigenfahrer“. Zehn ABC-Mitglieder führten einen „Banner-Reigen“ auf, bei dem diverse Figuren, u.a. ein Stern gefahren wurde. Die Reigenfahrten demonstrierten die absolute Kontrolle der Fahrer über ihre Räder und gleichzeitig eine möglichst perfekte Ordnung und Unterordnung des Einzelnen. Der „Meisterfahrer“ Gustav Marschen begeisterte zudem mit Kunststücken auf dem Hoch- und Niederrad und erhielt dafür von Gregers Nissen einen Lorbeerkranz überreicht. Auf diese Weise fand das dreitägige Fest zum 25-jährigen Jubiläum einen sportlichen Höhepunkt, der die Anwesenden den Presseberichten zufolge abermals außerordentlich begeisterte.

Das eigentliche Jubiläum fand schließlich am 17. April statt, war doch der Eimsbüttler Velocipeden-Reit-Club an diesem Tage im Jahr 1869 gegründet worden. Wie die ABC-Mitglieder diesen Tag nach dem dreitägigen Fest verbrachten, ist nicht überliefert. Vermutlich trafen sie sich im kleinen, internen Kreise, um die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Der ABC erreichte mit dem 25-järhrigen „Stiftungs-Fest“ jedenfalls einen unbestrittenen Höhepunkt in der Vereinsgeschichte. Der Verein demonstrierte mit den rauschenden, drei Tage währenden Feierlichkeiten seine pionierhafte und wegweisende Rolle im deutschen Radsport und im Radfahren überhaupt. Der eigenen historischen Bedeutung bewusst, betrieb man bereits ganz gezielt eine clubeigene Geschichtsschreibung. Die vielen Glückwünsche anderer Radsportvereine und die große Zahl auswärtiger Besucher untermauerten den Stellenwert des ABC vor aller Augen. Der Verein feierte sich selbst und inszenierte sich – vor dem Hintergrund des Fahrradbooms der frühen 1890er Jahre – als Vorreiter und Visionär des Fahrrads, der nun, endlich, die Anerkennung fand, die ihm nach Meinung der Mitglieder angesichts des unbeugsamen Glaubens der Gründungsväter an eine glorreiche Zukunft des Fahrrads berechtigterweise zustand.

Quellen: Altonaer Nachrichten vom 3./4., 11., 13., 15. und 16. 4.1894; Altonaer Tageblatt vom 17.4.1894; Hamburger Nachrichten vom 16. und 17.4.1894; Hamburger Fremdenblatt vom 16.4.1894; Hamburger Tageblatt vom 17.4.1894; Hamburger Freie Presse vom 17.4.1894; Commers Zeitung zum 25jährigen Jubiläum des Altonaer Bicycle Club v. 1869/80 (aeltester Bicycle Club der Welt), Altona 1894; Die Entstehung und Entwicklung des Altonaer Bicycle-Clubs von 1869/80, Altona: Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, 1894.

Hamburg-Altona, 16. April 2014 / Lars

Von Hamburg auf dem Rade nordwärts (1897)

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Gregers Nissen, Von Hamburg auf dem Rade nordwärts, Reprint, Hamburg: Staatliche Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg, 1979 (Erstaufl. Hamburg: Julius Bruse 1897).

Im Jahr 1897, inmitten des Fahrradbooms um die Jahrhundertwende, veröffentlichte Gregers Nissen (1867-1942) den vorliegenden Radführer mit zwei ausführlich beschriebenen Routen von Hamburg jeweils an die Nord- und Ostsee. Nissens Radreiseführer ist eine reiche historische Quelle, welche die Vorteile des Fahrrads als Reisemittel herausstreicht und gleichzeitig das Land, die Natur und die Menschen kenntnisreich und verständnisvoll portraitiert. Dass die seltene Schrift der Öffentlichkeit erhalten bleibe müsse, dachte bereits vor 35 Jahren die Staatliche Pressestelle des Hamburger Senates und gab sie deshalb als Reprint heraus; nicht zuletzt, da das Fahrrad seinerzeit „fröhliche Urständ“ feiere. Letzteres gilt um so mehr für die Gegenwart und Nissens „nordische Wanderfahrt“ bietet auch heute noch eine sehr gut geschriebene und unterhaltsame Zeitreise.

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Das handliche Büchlein sollte dem Radfahrer unterwegs als Orientierungshilfe dienen und zugleich aktuelle und historische Hintergrundinformationen liefern. Drei Spalten am linken Rand listen jeweils die Entfernung der gesamten Tour, die Gesamtstrecke in umgekehrter Richtung und die Entfernungen von Punkt zu Punkt auf. Markante Orte und Sehenswürdigkeiten sind fett hervorgehoben, um auf den ersten Blick schneller erfasst zu werden. Der Führer enthält allerdings keinerlei Karten; Nissen verweist vielmehr auf die „sorgfältig bearbeiteten Mittelbach'schen Karten“ und für Dänemark auf den „Danmarkskort“ (Begleitwort).

Die erste Tour – „Marsch-, Deich- und Inselfahrten“ – beginnt an den Hamburger Landungsbrücken. Mit Blick auf den pulsierenden Hafen eröffnet Nissen: „Dem Inländer thut sich hier eine gänzlich neue Welt auf.“ (S. 7) Per Dampfer überquert der Radreisende die Elbe, durch Moorburg fährt er ins Alte Land. Das „Kirschenland“ versetze einen „in eine andere ganz andere Weltgegend“, so anders seien die Menschen, ja so anders sei „alles“ dort. (S. 9) Im Mai sei die Strecke wegen der Blütezeit der Obstbäume besonders schön und werde vom landschaftlichen Reiz nur von der „Bergstrasse“ in der Pfalz erreicht.

Über Stade führt die Route nach Wischhafen, per Fähre nach Glückstadt, von dort via St. Margarethen nach Brunsbüttelhafen an den Nordostseekanal. „Die gewaltigen Schleusenwerke an der nahen Mündung des Kanals verdienen allgemeine Bewunderung und legen ein rühmlich Zeugnis für deutsches Können ab“, jubiliert Nissen über den kurz zuvor (1895) eingeweihten „Kaiser-Wilhelm-Kanal“. (S. 12) Nissen bescheinigt Brunsbüttel wegen der lebhaften Bautätigkeit „fast einen amerikanischen Eindruck“. Wie bereits im Alten Land sucht sein Blick nach Typischem und regionalen und lokalen Besonderheiten und findet immer wieder „Fremdes“ in der weiteren Heimat.

Die Reiseroute geht weiter in Richtung Norden und durchquert Marne, ein „schmucke[s] Städtchen“, wo das „Museum des dortigen Skat-Clubs“ besonders gut gefalle. Meldorf, Büsum, Wesselburen, Tönning und  Husum sind die weiteren Stationen. Außer Storm habe Letztere aber „wenig Poesie“ zu bieten, befindet Nissen. (S. 15) Hattstedt, Bredtstedt, Dagebüll und Tondern heißen die nächsten Anlaufpunkte. Endstation auf dem Festland ist Hoyer, dem damaligen Fährhafen für die Dampfer nach Sylt. (Nach dem Ersten Weltkrieg und den Gebietsabtretungen an Dänemark wurde der Hindenburg-Damm errichtet, um die Insel von deutschem Gebiet aus erreichen zu können). In Westerland, „dem fashionablen Badeorte“ begegnet Nissen mondänem und geradezu internationalem Flair: „Ein unvergleichliches Bild bietet uns dieser Ort; man glaubt sich in einen türkischen Bazar versetzt. Laden an Laden, die buntesten Sachen enthaltend, befindet sich in den Strassen, und dann die ungeheure Zahl von Fremden in den verschiedenen fantastischen Gewändern.“ (S. 18) Nach den vorangegangen Naturerlebnissen ist Nissen vom lebhaften Charakter Westerlands geradezu überwältigt (und auch Radreisende der heutigen Zeit machen ähnliche Erfahrungen, wenn Natur und Stadt sich abwechseln und die Erlebnisse sich dadurch verstärken). Nach Wyk auf Föhr erreicht die erste Tour in Amrum ihr „Endziel“ und schließt mit Informationen für die Rückreise per Schiff und Bahn.

Nach der Nordsee geht es in der zweiten Tourbeschreibung – „Durch Schleswig-Holsteins Fluren nach Kopenhagen“ – an die Ostsee. Wiederum bildet Hamburg den Ausgangspunkt und über Bergedorf, Reinbek, Friedrichsruh, Grande, Mölln und Ratzeburg führt der Weg nach Lübeck, dem „norddeutsche[n] Nürnberg“. (S. 27) In Travemünde wird erstmals die Ostsee erreicht, die weiteren Stationen bilden Timmendorf, Eutin, Schönwalde under Bungsberg. „Man sieht die Ostsee, die Insel Fehmarn und bei klarem Wetter die dänischen Inseln.“ (S. 30) Über Malente und Lütjenburg kehrt die Route zur Ostsee zurück, ins „am schneeweissen Strand“ gelegene Hohwacht. (S. 33)

Der vorgeschlagene Weg geht weiter nach Kiel, in die Eckernförder Bucht, Schleswig und Flensburg, „eine der schönsten deutschen Hafenstädte“, wie Nissen meint. (S. 37) Die Gegend nördlich von Flensburg gefällt ihm besonders gut, über die Strecke nach Kollund schreibt er: „Dieser Weg, mit seinen prächtigen Durchblicken auf die schimmernde Föhrde, mit seinen romantischen Schluchten, sucht seinesgleichen in ganz Norddeutschland.“ (S. 38) Am Wegesrand nach Sonderburg und Apenrade weist Nissen immer wieder auf Schauplätze des dänisch-preußischen Krieges von 1864 hin. 14 Kilometer nördlich von Hadersleben, das „ausser der schönen Marienkirche an Sehenswürdigkeiten weiter nichts“ zu bieten habe, überschreitet die Route dann die deutsch-dänische Grenze, „die jeder Radfahrer, der zum Vergnügen reist, ohne Pass und ohne Zollplackereien überschreiten kann, ein nicht geringer Vorzug gegen unsere Grenzen im Süden.“ (S. 40) Das Gebiet um Veile sei gekennzeichnet durch „eine so prächtige Lage, dass sie nicht mit Unrecht das dänische Paradies genannt wird.“ (S. 41) Gregers Nissen fühlt sich sichtlich wohl in Dänemark, wo die Preise im Vergleich zu Deutschland niedriger seien und die Menschen überaus freundlich, so seine Wahrnehmung. Für den Radreisenden habe Dänemark zudem weitere Vorteile: „Der Radfahrsport hat in den breiteren Volksschichten, namentlich unter den Landleuten, viel mehr Verbreitung gefunden wie bei uns.“ (S. 42)

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In der Hauptstadt der Insel Fühnen, Odense, hebt Nissen das Museum nordischer Altertümer hervor, in Roskilde findet er „eines der prachtvollsten Monumente Dänemarks“, die weithin sichtbare Domkirche: “Das Innere des Domes macht einen prächtigen Eindruck.“ (S. 43) Nach weiteren 30 Kilometern endet die Route – „endlich“ – in Kopenhagen, der dänischen Hauptstadt, die Nissen als Höhepunkt der insgesamt 643 Kilometern langen Strecke präsentiert und ihr dementsprechend den meisten Raum widmet. Drei Tage solle man dort mindestens verbringen, um die zahlreichen Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so sein Ratschlag. Nissen empfiehlt u.a. die Besichtigung der Frauenkirche, der Marmorkirche, verschiedener Museen wie Thorwaldsens Museum, des Schlosses Frederiksborg, etc. „Einen Tag muss man daran wenden eine Fahrt am Oeresund entlang zu machen nach Helsingör und weiter nach Fredensburg und Hilleröd.“ (S. 45) Nissen überschlägt sich fast mit Tipps für den Aufenthalt in Kopenhagen und seine Begeisterung angesichts der dänischen Metropole, ihrer Schönheit und der Gelassenheit der Bevölkerung ist deutlich zu vernehmen.

Gregers Nissens Radführer durch Norddeutschland und Dänemark erschien in einer Zeit, als das Radwandern noch in den Kinderschuhen steckte. Seine Schrift ermuntert den Leser (und sicherlich auch einige damalige Leserinnen) die beschriebenen Schönheiten der Natur und die jeweiligen kulturellen Besonderheiten selbst zu erleben. Der Ablauf der Tour verstärkt dabei die jeweiligen Eindrücke, die mit Kopenhagen auf der zweiten Tour unübersehbar ihren Gipfel erlangen. Hier erkennen wir den „internationalen“ Radwanderer Gregers Nissen, der die Grenzen der von ihm geliebten Heimat hinter sich lassen und auf dem Rade Neues entdecken möchte. „Von Hamburg auf dem Rade nordwärts“ versprüht Pioniergeist und völlig zu Recht ist Nissen als „Prophet des Radwanderns“ bezeichnet worden. Nissens Begeisterung gegenüber dem Radwandern und der Reisetauglichkeit des Fahrrades wirkt auch heute noch ansteckend.

Hamburg-Altona, 10. April 2014 / Lars Amenda

Philosophie des Fahrrads (1900)

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Eduard Bertz, Philosophie des Fahrrads, hrsg. von Wulfhard Stahl, erweiterte Neuausgabe, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag, 2012 (Erstauflage Dresden/Leipzig: Carl Reißner, 1900).

In den 1890er Jahren, nach der Einführung von Luftreifen, erlebte das Fahrrad einen ungeheuren Aufschwung und erhöhte die menschliche Mobilität beträchtlich. Der Mobilitätsgewinn war so immens, dass es nicht lange dauerte bis die gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen, radbedingten Beweglichkeit reflektiert wurden. Im Jahr 1900 veröffentlichte der Potsdamer Schriftsteller Eduard Bertz (1853-1931) seine „Philosophie des Fahrrads“ und versuchte als erster im deutschen Sprachraum, den gesellschaftlichen Nutzen, aber auch potentielle Gefahren des boomenden Radsports und des alltäglichen Radfahrens umfassend abzuwägen. Um es vorwegzunehmen: Bertz neu aufgelegte Fahrradphilosophie ist ein ungemein reiches und wertvolles Zeitdokument, das trotz seiner historischen Verankerung auch manchen Gedankenanstoß für die Gegenwart bereit hält.

Eduard Bertz war ein geistig arbeitender Mensch, der das Radfahren als körperlichen und mentalen Ausgleich schätzte und deshalb in einem positiven Grundtenor über das Fahrrad schreibt. Charakteristisch für ihn ist eine gleichzeitig nationale und internationale Perspektive, die sowohl die volkswirtschaftliche Entwicklung als auch die Beziehungen der Nationen untereinander berücksichtigt: „Auch das Fahrrad ist eines von den Werkzeugen, vermöge deren der Mensch sowohl sich der Erde wie die Erde sich selbst anpaßt; eine Waffe, mit deren Hilfe er ihre Schranken niederzwingt und ihr Herr wird. Und das es ihn so gut wie die Eisenbahnen, ja besser noch, von Land zu Land trägt, so ist es auch seinerseits ein Apostel des Völkerfriedens.“ (S. 9) Radfahren sei „demokratisch“, vereine die verschiedenen sozialen Klassen und verhelfe gerade auch den Arbeitern zu einer sehr zu begrüßenden „Rückkehr zur Natur“. (S. 26) Vor dem Hintergrund der dynamischen Industrialisierung und Urbanisierung seiner Zeit schwärmt Bertz geradezu von den Naturerlebnissen auf dem Fahrrad: „Man ist zeitweise von seinem Ich befreit, geht gleichsam in der Natur auf, schmeckt das Nirwana.“ (S. 100) In dem Fahrrad sieht er also ein Instrument der Emanzipation, nicht nur für Arbeiter sondern vor allem auch für Frauen. Letzteren widmet er ein eigenes Kapitel – von insgesamt zehn (nicht immer thematisch stringenten) – und begrüßt das Fahrradfahren der Frauen ausdrücklich.

Bei allen Lobliedern auf das Fahrrad sieht Eduard Bertz einige Entwicklungen aber auch kritisch. Dies betrifft vor allem den während der Niederschrift seines Buches florierenden Radsport. Mit folgender Empfehlung versuchte er einige Radfahrer zu bremsen: „Wir wissen von unseren Ärzten, daß zwölf bis höchstens fünfzehn Kilometer in der Stunde für den Radfahrer das gesunde Maß ist, dessen Überschreitung ihm mit Gefahr droht.“ (S. 82) Bertz urteilt und verurteilt hier ganz aus der Perspektive des „Genussradlers“, dem der Wettbewerb und der Geschwindigkeitsrausch auf dem Rennrad vollkommen fremd und zuwider ist. Dabei unterscheidet er zwischen Berufsfahrern, die er aus moralischen Gründen noch stärker kritisiert als Amateursportler. (Eine Position, die sich auch der ABC um 1900 zu eigen machte, indem er Berufsfahrer ablehnte und den Amateurgedanken propagierte). Der Radsport habe zudem, und dies sei besonders schädlich, einen ungünstigen Einfluss auf die Jugend, wie Bertz wortgewaltig ausführt: „Übermächtig ist leider der Nachahmungstrieb in der unreifen und unerfahrenen Jugend; darum liegt in dem Vorbild, das sie durch die Rennveranstaltungen beständig empfängt, eine furchtbare Gefahr.“ (S. 86)

Einen kleinen Seitenhieb auf Fahrradvereine kann und will sich Bertz ebenso nicht verkneifen: In den Vereinen werde die „alte Spießbürgerlichkeit“ weiter gelebt und bei vielen Clubs gehe es vor allem um den gemeinschaftlichen Konsum alkoholischer Getränke („Kneipereien“). (S. 108). Damit lag Bertz wohl nicht völlig daneben, zumindest was die „gesellige Zeit“ des Herbstes und Winters betrifft. Hier zeigt sich aber auch sein ausgeprägter Individualismus, der ihn die Gemeinschaften von Radsportlern verdächtig erscheinen lässt.

Das Kapitel 8 trägt den Titel „Das Rad als Bildungsmittel und Kulturbringer“ und bündelt noch einmal die Bertzsche positve Sicht auf den erzieherischen Charakter des Fahrrads. Neben dem Mut des Radfahrers erwähnt er auch ein „Solidaritätsgefühl“ aller Radfahrer, das sich sich zum einen aus der „Unterdrückung“, zum anderen aus der geteilten „Freude“ speise. (S. 156) Das Fahrrad vermehre zudem die „Kenntnisse von Land und Leuten“, lasse „nie gesehene Szenen und Gestalten“ an Radfahrer vorüberziehen und vergrößere damit generell „seine Welt“ (S. 158).

Den „Feinden“ des Fahrrads widmet Bertz ebenfalls ein eigenes Kapitel. Diese erkennt er in Pferdezüchtern und vor allem in Kutschern, die Radfahrer in den Städten und auf den Landstraßen nicht selten drangsalierten. Eduard Bertz ordnet diese Feindschaft in die allgemeine Entwicklung der Industrialisierung ein: „Die gewalttätige Feindschaft der Kutscher gegen das Fahrrad ist eine neue Form des alten Kampfes zwischen Arbeiter und Maschine.“ (S. 173) Die Maschine, also das Fahrrad, bedeutete für Kutscher finanzielle Einbußen, weshalb viele von ihnen den Radfahrern feindlich gesonnen seien. (Vielleicht ist dieses das Verhaltensmuster teilweise noch in der heutigen Zeit anzutreffen, was ich nicht für völlig ausgeschlossen halte, wenn ich einige Fahrmanöver von Taxifahrern denke …). Ein weiterer „Feind“ ist – natürlich – der Fußgänger. Wobei Bertz offen zugibt, dass das das Fahrrad ein „Friedensstörer“ sei und eine „neue Gefahr“ in den Straßenverkehr gebracht habe. (S. 176) Er kritisiert jedoch „die“ Fußgänger für ihre Unachtsamkeit und ihre bisweilen bewusste Gefährdung von Radfahrern.

Alles in allem spricht Eduard Bertz dem Fahrrad einen sehr hohen Wert zu, sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Das Fahrrad helfe vielen Menschen wie insbesondere dem Arbeiter und der Frau, beweglicher und unanbhängiger zu werden. Ja, es erziehe den Einzelnen geradezu in positiver Hinsicht, indem es ihn (vor allem dem Städter) einen einfachen und schnellen Weg in die Natur bahne. Aber auch die Gesamtheit profitiere vom massenhaften Gebrauch des Fahrrads, sei es bezüglich des Militärdiestes oder der allgemeinen „Volksgesundheit“. Das Fahrrad stellt für Eduard Bertz trotz aller von ihm genannten Gefahren, insbesondere im Radsport, ein ungemein nützliches Fortbewegungsmittel dar und die Faszination ihm gegenüber ist in der „Philosophie des Fahrrads“ förmlich greifbar.

Die Neuausgabe dieses Klassikers der Fahrradliteratur schließt mit einem Nachwort des Herausgebers, das einige Informationen über den Verfasser enthält, und einem Namensregister mit kurzen Erläuterungen über im Text erwähnte Personen und (Zeit)-Schriften. Lediglich die Auswahl der Illustrationen, die wohl nicht im Orginaltext enthalten waren (Informationen dazu gibt es keine) finde ich ein wenig willkürlich.

Eduard Bertz “Philospohie des Fahrrads“ ist nach wie vor eine sehr lesenswerte Lektüre und ein wertvolles historisches Dokument, das die Begeisterung gegenüber dem Fahrrad im „goldenen Zeitalter“ sehr gut einfängt und wiedergibt und dem fahrradhistorisch Interessierten deshalb nur empfohlen werden kann.

Hamburg, 6. April 2014 / Lars Amenda 


 

 

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