Velo Classico 2015

Ein kühler Morgen im September. Die Luft ist feucht, der Himmel bedeckt und die Stimmung ist herbstlich grau. Die Radsaison neigt sich dem Ende entgegen. Im Wald erhält das ohnehin gedämpfte Tageslicht einen Schleier von grün und braun. Da sind die plötzlich auftauchenden Farbtupfer ein fröhlicher Kontrast.

Im Dämmerlicht des Waldes sind die alten, verwaschenen Wolltrikots wahrhaft leuchtende Punkte. Gerade noch fuhren wir parlierend als geschlossenes Feld dahin. Nette Gespräche links und rechts, Technik-, Touren- und Ausrüstungstipps vorne und hinten. Welch angenehme Gesellschaft.

Das Peloton nimmt die Form einer Perlschnur an. Von der Spitze ist bereits das mahlende Schmatzen von mindestens 28 mm breiten Reifen im feinen Schotter zu hören. Die folgenden Fahrer versuchen irgendwie am Vordermann vorbei zu schielen, um ungeliebten Überraschungen des losen und unregelmäßigen Untergrundes aus dem Weg zu lenken. Sechzig Beine wuchten rund dreihundert Kilo Stahl über den schmalen Waldweg. Der Untergrund wird feiner und einen Augenblick später finden wir uns im Sand wieder. Es wird konzentriert gesteuert und nicht weniger konzentriert pedaliert. Hinter einer engen Kurve steigt der Weg steil an. Fast synchron greifen die Fahrer nach unten und lockern einen Pedalriemen. Bloß nicht stürzen weil man nicht rechtzeitig einen Fuß auf den Boden bekommt. Die Routiniers haben mit dem rechten Unterrohrschalthebel noch schnell in einen leichteren Gang geschaltet, bevor sie weiter nach unten griffen. Die anderen quälen die Kette nun unter hörbar mechanischer Geräuschkulisse auf ein größeres Ritzel. Das Problem habe ich mit meinem Starrgangrad nicht. Aber dafür muss ich ganz schön in die Pedale treten. Wo die Bremsschalthebel sind? – An den Rädern zu Hause!

Hier ist Retro angesagt. Wir befinden uns auf der 152 km langen sogenannten „Heldenrunde“ der „Velo Classico“. Wie bei der L’Eroica, dem großen italienischen Vorbild in der Toskana, geht es ebenfalls um eine kleine Hommage an die Anfänge des Radsports. Daher geht es auch über Stock und Stein, schließlich waren die Straßen damals auch alles andere als befestigt. Es sollte sich aber niemand abschrecken lassen. Die Route ist fein ausgesucht und führt durch eine wunderschöne, ruhige Landschaft. Die Abschnitte unbefestigter Wege sind insgesamt nicht besonders lang und problemlos zu bewältigen. Zudem werden auch noch zwei kürzere Strecken angeboten, die Genießer- und die Liebhaberrunde.

Allen Strecken gleich sind die mit Liebe ausgesuchten und vor allem betreuten Depots. Jedes Depot hat ein historisches Ambiente und manch historisches Gewand kommt zum Einsatz. Es herrscht eine absolut tiefenentspannte Atmosphäre und ich nehme mir an jedem Depot die Zeit mit den Leuten zu schnacken. Und von den regionalen Köstlichkeiten zu naschen…

Die Premiere der „Velo Classico“ fand im mecklenburgischen Ludwigslust statt. Start und Ziel waren auf der Hofdamenallee im weitläufigen Garten des Barockschlosses eingerichtet. Bei der Einfahrt ins Ziel war das Schloss eine fantastische Kulisse. Im Garten des Schweizer Hauses gab es ab Samstag Mittag einen kleinen Teilemarkt, exklusive Radfahrmode in Tweed und jede Menge Räder. Das Spektrum reichte vom professionell restaurierten Boliden bis zum Scheunenfund. Besonders beeindruckend  fand ich ein Opel Rennrad von 1906, welches von seinem Fahrer sogar über die „Heldenrunde“ getrieben wurde. Ansonsten wurde einfach viel gefachsimpelt und geschnackt. Das Schöne ist, dass irgendwie jeder eine persönliche, alte Fahrradgeschichte erzählen kann.  

Der organisatorischen und logistischen Raffinesse von Michael und Basti ist es zu verdanken, dass der ABC bei der Premiere der „Velo Classico“ einen beachtlichen Stand mit insgesamt neun Fahrrädern aus unterschiedlichen Epochen beisteuern konnte. „ABC-Sympathisanten“ verwöhnten uns sogar mit einem exklusiven ABC-Kuchen.

Am Sonntag fanden die Ausfahrten statt. Die Startzeiten waren so gestaffelt, dass alle Teilnehmer die zweite Tageshälfte im Garten des Schweizer Hauses bei Live Musik, Futter und Getränken genießen konnten. Bei nachmittäglichem Sonnenschein fand sich auch deutlich mehr Publikum ein als am Tag zuvor. Die Preisverleihung zum Ende der Veranstaltung brachte dann noch einmal echte Glanzlichter hervor. Zum Beispiel ein 30 Kilogramm schweres Schweizer Armeerad von 1935, welches von seinem Besitzer in Originaluniform über die Liebhaber-Runde bewegt wurde. (Da muss man sein Rad wirklich lieb haben.) Ferner wurden weitere besondere Räder und Radler/innen mit ausgesprochen stilvollem Outfit vorgestellt.

Da mir als Nicht-Hamburger manche Vereinsaktivitäten entfernungsbedingt vergönnt sind, habe ich die angenehme Zeit mit den ABC’lern Michael und Basti besonders genossen.  

Zum Ende einer sportlichen Radsaison fand ich die völlige Entschleunigung des Retro-Radelns und die vielen interessanten Gespräche äußerst angenehm. Und auch anregend. Denn nun beginnt wieder die Zeit des Pläneschmiedens. Willkommen Herbst.

Andreas /// Hamburg, den 25.9.2015