600km-Brevet der ARA Hamburg am 7./8. Juni 2014

200-300-400-600 Kilometer. Das ist die eherne Arithmetik der Brevet-Saison und sie ist recht sinnvoll, denn tastet man sich doch so an (immer) längere Strecken heran. Für mich sollte es mein erster 600-km Brevet werden und einen Tag vorher merkte ich schon, dass ich ein wenig abgelenkt und nicht vollständig „fokussiert“ war. Ich überlegte sogar einige Sekunden, den mit 600 Kilometern doch etwas längeren „Ritt“ abzusagen und stattdessen zwei, drei Bier zu trinken. Machte ich dann aber doch nicht, keine Sorge, sonst hätte es auch kaum diesen Bericht gegeben. Ich packte abends meine Sachen, stopfte den Rucksack, legte die Kleidung hin, alles wie gewohnt und schon einige Male vorher praktiziert.

Am Samstag Morgen hielt ich um 6.40 Uhr die Nase aus dem Fenster  – und es war schon recht warm. Mit Lars fuhr ich dann von Altona zum Startpunkt in Rothenburgsort, wo ich unter den rund 50 Teilnehmern einige bekannte Gesichter traf. Hanno erläuterte noch einige Dinge – wie das Prozedere mit den Kontrollkarten und Beweisfotos, falls Kontrollstellen geschlossen sein sollten. Und dann machten wir uns auf. die Reise gen Süden ins Wendland, über die Elbe durch Mecklenburg, an die Ostsee, Richtung Fehmarn, wieder an die Ostsee, durch die Holsteinische Schweiz und zurück nach Hamburg.

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Die Fähre am Zollenspieker Fährhaus fuhr uns vor der Nase davon und so versammelte sich die ganze „Baggage“. Nach dem Übersetzen ging es zügig weiter, ich hatte aber keine Lust auf eine Verfolgungsfahrt und nahm etwas Tempo raus, traf Magnus, dem es ebenfalls so ging. Die erste Kontrolle lag bei einer Tankstelle in Holm-Seppensen nach 58 Kilometern, dann ging es einmal wieder durch Amelinghausen – irgendwie geht es immer durch Amelinghausen. Nach ca. 100 Kilometern fühlte ich mich schlapp und kraftlos, das Tempo war mir etwas zu schnell, vor Bad Bevensen, dem zweiten Kontrollpunkt nach 130 Kilometern – tauchten einige Hügel auf, die zusammen mit der einsetzenden Hitze mich doch etwas schlauchten. Bei mir waren nicht nur die Beine schlapp, auch der Geist war nicht wirklich willig. Vor Bad Bevensen dachte ich sogar kurz daran, wie bequem man von dort mit der Bahn nach Hamburg reisen könnte … Doch aufgeben wollte ich natürlich nicht, schließlich würde ich mit dem 600er die komplette „Super Randonneur“-Serie gefahren sein. Also hieß es für mich: Tempo herausnehmen. Meine Vierergruppe mit Magnus ließ ich ziehen und fuhr so ca. 40 Kilometer alleine.

Nach 177 Kilometern erreichte ich die nächste Kontrollstelle in Dammatz, in einem Hotel und Restaurant mit Biergarten gelegen. Nach einigen Minuten traf eine größere Gruppe um Hanno ein, zu der ich mich gesellte. Es tat jetzt gut, nicht auf dem Rad sondern im Schatten zu sitzen. Alleine ging es dann weiter, bei Dömitz über die Elbe, die Gruppe holte mich irgendwann ein und ich klinkte mich in diese ein (und sollte dann bis zum Ende des Brevets dabei bleiben). Wir fuhren Richtung Norden durch Lübtheen, Hagenow und Zarrentin, wo wir nach 260 Kilometern die fünfte Kontrolle anliefen. Die Hitze, die von Feldern herüberschwappte war recht beträchtlich, ich hatte morgens noch überlegt, ob ich nicht ein blaues Trikot anziehen sollte – anstatt des schwarzen … na ja, es gab ja reichlich Fahrtwind.

Ich kam jetzt aber in den Brevet körperlich und gedanklich gut rein, das Tempo passte, die Gruppe funktionierte gut, die Stimmung war bestens, es rollte. Zudem wurde es langsam kühler, während wir Richtung Ostsee pedalierten. Als wir auf dem Priwall ankamen, dämmerte es schon und wir beschlossen, in Travemünde eine längere Pause einzulegen und etwas zu essen. Wir fanden einen Italiener an der Promenade und verköstigten uns.

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Dann hieß es: raus in die Nacht und weiter. Die Reflexwesten wurden angelegt und wir fuhren nun entlang der Ostsee, durch Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Neustadt. Um uns herum waren vergnügte Urlauber und Passanten, an denen wir auf Promenade entlang „brausten“. Irgendwie sah und merkte man uns an, dass wir aus “einer anderen Welt” kamen, in einem anderen Modus waren … Mir machte die Fahrt jetzt sehr viel Freude, gerade diese „Parallelwelt“ des Brevet Fahrens machte mir Spaß; die ganze, jetzt zum Glück kühle Nacht auf dem Fahrrad zu verbringen, genoss ich sehr.

In Lensahn erreichten wir mitten in der Nacht die nächste Kontrollstelle, durch Oldenburg in Holstein ging es nach Heiligenhafen, dem nördlichsten Punkt der Tour. Dann wieder zurück nach Oldenburg und nach Hohwacht. Ich fühlte mich körperlich jetzt erstaunlich gut. In der Nacht hatte ich kaum Führungsarbeit in unserer (jetzt eingespielten) Sechsergruppe geleistet (weil ich über kein Navigationsgerät verfüge und auch meine Akkuleuchte nicht die hellste ist). Mit dem Einbruch der Morgendämmerung fühlte ich mich wieder sicherer und wir nahmen wieder etwas mehr Tempo auf. In Hohwacht lag die Kontrollstelle in einem Hotel, das wir morgens um 5 Uhr erreichten. Der Portier schenkte einige Tassen Kaffee aus, Frühstück gab es leider aber noch nicht. Ein Mitfahrer legte sich draußen zum Schlafen nieder uns, zog nach kurzer Zeit weiter.

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Für mich folgte nun der schönste und bewegendste Teil der Strecke. Hinter Lütjenburg ging die Sonne auf und machte den Blick frei auf sanfte Hügel und malerische Bäume. Ich empfand es als großes Glück, just in diesem Moment durch genau diese Landschaft fahren zu dürfen – es war jetzt eine pure Freude. Weiter ging es durch Malente und die Holsteinische Schweiz. In unserem gemäßigt-zügigen Tempo konnte ich die Schönheiten der Natur genießen, auch wenn sich jetzt mancher Hügel dazwischen gesellte. Zwei aus unserer Gruppe leisteten die meiste Führungsarbeit. Ich versuchte, mich ein wenig mehr vorne zu beteiligen.

Wir hatten jetzt rund 450 Kilometer in den Beinen und keine Sekunde geschlafen; Müdigkeit verspürte ich jedoch keine, im Gegensatz zu einigen anderen Teilnehmern, die die eine oder andere Kontrollstelle für ein kleines Nickerchen nutzten. In Reinfeld erreichten wir die nächste Kontrollstelle in einem bekannten Schnellrestaurant. Ich musste jetzt unbedingt etwas essen und bestellte etwas mit Eiern, die ich „normalerweise“ nicht esse. Da unsere Veranstaltung aber ja auch nicht ganz „normal“ war, machte ich einmal eine Ausnahme. Die Sonne wärmte jetzt schon wieder ganz ordentlich. Zu unserer Gruppe gesellte sich noch Morten, der uns auf seinem Liegerad begleitete.

So langsam kamen wir in heimatliche Gefilde. Die nächste Kontrollstelle war in Mölln. Es ging jetzt teilweise auf fürchterlichen Straßen mit tausenden von Schlaglöchern “voran”. Doch wir kamen Hamburg immer näher. Die letzte Kontrollstelle lag in Oststeinbek, jetzt waren es nur noch 20 Kilometer nach Hamburg. Zügig ging es nach Hause. Körperlich ging es mir trotz der wieder voll entfalteten Hitze ziemlich gut. Einzig die rechte Fußsohle brannte und lenkte mich etwas ab.

Boberg, Tatenberg, jetzt waren fast da. Nach rund 610 Kilometern erreichten wir dann am Sonntag gegen 14.00 Uhr das Ziel im Hotel Holiday Inn in Rothenburgsort. Ich war jetzt doch ein wenig berührt und gerührt, umarmte Hanno und bedankte mit bei meinen anderen Mitstreitern. Wir gaben unsere Kontrollkarten ab, unsere treuen Begleiter und „Heiligtümer“ während der letzten 30 Stunden. (Wer seine Kontroll- und Stempelkarte verlieren sollte, dem wird der Brevet nicht anerkannt). Dann setzte ich mich wieder aufs Fahrrad und rollte nach Altona.

Heute, mit einigen Tagen Abstand, spüre ich die Anstrengung immer noch ein wenig in den Beinen, auch die rechte Fußsohle, der rechte Fußballen hat sich noch nicht vollständig erholt, aber es überwiegen deutlich die positiven Eindrücke der Tour: die Naturerlebnisse, die Bewältigung der Strecke, das Fahren durch die Nacht, die vorübergehende Gemeinschaft der Gruppe. Der 600-km-Brevet ist für mich die bislang längste am Stück zurückgelegte Strecke. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass noch weitere Langstreckenfahrten dazu kommen werden. Dabei geht es mir weniger um eine Rekordjagd (immer länger, weiter, mehr Kilometer), es ist vielmehr die Intensität, das Erleben, das Auf und Ab auf einer längeren Tour, das mich so reizt. Ach ja, und das Verwegene der Langstreckenfahrten „Audax Randonneurs“ (frz. Audax = verwegen) sagt mir auch sehr zu … das Bild von uns als neonbeschürzte “Fahrradzombis”, die bei Dunkelheit entlang der Ostseepromenade an den erstaunten und beschwipsten Passanten vorbeifliegen, wird mir jedenfalls in Erinnerung bleiben.

Hamburg, den 12. Juni 2014