Baltikum-Tour

Baltikum 2016 - Tag 0, 05.08.2016
Es ist mal wieder so weit. Das kleine Fernweh hat mich gepackt und es geht wieder los. Von zu Hause aus zu starten hat dabei für mich einen besonderen Reiz. Es ist das Gefühl, direkt in die Welt hinaus zu fahren, wieder etwas Neues zu entdecken. So plane ich vom nördlichen Schleswig-Holstein der Ostseeküste bis Tallin zu folgen. Das Gepäck fällt auf dieser Tour nicht ganz so spartanisch aus, denn Zelt, Isomatte und Schlafsack sind mit dabei. Da ich in den Stockhlomer Schären in der zweiten Augusthälfte schon Nachttemperaturen von vier Grad Celsius erlebt habe, sorge ich ausrüstungstechnisch entsprechend vor. Mit dem Gesamtgewicht von 10,5 kg (inkl. Taschen) bin ich daher sehr zufrieden. - Morgen geht es los!

Tag 1, 06.08.2016
Ich sitze seit 750 Metern im Sattel und schon kommt die erste Steigung.
Nix Wildes, aber ich merke die Steigung deutlicher als gewohnt. Seit den
knapp 560 km beim 24h Rennen vor drei Wochen habe ich nicht wirklich
seriös im Sattel gesessen und ich bekomme fast ein schlechtes Gewissen.
Aber das ist natürlich Quatsch. Es ist das Gepäck, welches die Fahrt so
ungewohnt erscheinen läßt.

In Kiel wartet eine Stärkung in Form einer sehr angenehmen Kaffeepause. Beim anschließenden Start regnet es und ich stelle fest, dass ich beim Packen die alten löchrigen Überschuhe erwischt habe. Was hatten die den noch im Schrank zu suchen? Das hat man davon, wenn man solche Sachen nicht konsequent entsorgt. Haha. Zum Glück liegt ein größere Radladen auf dem Weg, sodass ich für Ersatz sorgen kann. (Und die alten Teile entsorge.)

Die Fahrt quer durch Ostholstein läuft dann wirklich flott. Einerseits
schiebt ein ordentlicher Westwind und andererseits sind die Beine doch
nicht wirklich schlecht.
Mit der Priwall-Fähre setze ich auf die Ostseite der Trave und setze die
Fahrt fort. Ich peile den Campingplatz in Boltenhagen an. Wenige
Kilometer vor Boltenhagen entdecke ich durch Zufall eine Radler
Herberge. Trotz des Belegt-Schildes stoppe ich und frage nach einem
Platz.

Hurra, ich habe Glück. Bei Suppe, Kartoffelsalat und Würstchen klingt
der Tag mit Radler -Gesprächen aus. Schön wieder unterwegs zu sein.
Elmenhorst, 162 km
Tag 2, 07.08.2016
Hmm…eine zweite Tasse Kaffee und überhaupt ein herrliches Frühstück.
Wie könnte der Tag besser beginnen? Draußen ist es trocken und der
Westwind wird auch heute mein Begleiter sein.
Zügig gelange ich nach Wismar und genieße diese schöne Stadt.
Nordostwärts geht es an der Insel Poel und am Salzhaff vorbei.

Kühlungsborn zur Haupturlaubszeit wird höchstgradig touristisch belagert. Den Weg nach Warnemünde verlagere ich etwas ins Landesinnere, um den vielbefahrenen Ostseeradweg zu meiden.

In Warnemünde bin ich regelrecht erschrocken. Der gesamte Ort gleicht
einer Kirmes. Ich habe nach der Wende einige Zeit in Warnemünde
gearbeitet und muss enttäuscht sagen, dass der Ort kaum etwas von seinem
Charme erhalten hat.

In Graal-Müritz, wo ich damals wohnte, finde ich ein nettes und
preisgünstiges Quartier. Abends schlendere ich noch durch den Ort und am
Strand entlang.
Graal-Müritz, 118 km, total 280 km
3. Tag, 08.08.2016
Ein leckeres und reichhaltiges Frühstück bei Heidemarie (im Hotel Heidemarie) und der Tag ist mein Freund. Sonnenschein und Westwind tun ihr übriges. Auf in den Sattel und ab die Post.

Rasch ist die Halbinsel Fischland Darß erreicht.Das Radeln gefällt mir
dort außerordentlich gut. Im Wesentlichen gibt es sogar eine gute
Radinfrastruktur. Immer wieder nutze ich die Chance über die Dünen einen
Blick auf das aufgewühlte Meer zu werfen und genieße den Ausblick und
die Atmosphäre.
So eben vor einer Regenfront erreiche ich nach knapp 100 km um 1415
Stralsund. In einem Bio Café mit Bio Ware und reichlich Bio Kundschaft
nasche ich gehaltvollen Bio Kuchen.

Das stellt sich dann als wirklich gute Stärkung heraus. Denn auf dem Weg
nach Greifswald erwarten mich rund 20 km Kopfsteinpflaster. Na super.
Das hat mir noch gefehlt. Immerhin bleibt es trocken. Das Pflaster ist
einigermaßen befahrbar, nervt aber dennoch. Und es bremst natürlich.
Ich bin froh das Tempo zwischen 15 und 17 km/h halten zu können.

Von Greifswald aus fahre ich noch an den Peenestrom und beende in
Wolgast den Radfahrtag. Nur noch etwas mehr als 40 km bis zur ersten
Landesgrenze der Baltikum Tour.
Wolgast, 162 km, total 442 km
4. Tag, 09.08.2016
Auf geht’s. Der erste Grenzübertritt der Tour wartet. Über die Treene
Klappbrücke gelande ich auf die Sonneninsel Usedom. So die Eigenwerbung.
In der Tat habe ich Glück mit dem Wetter. Auch hier stoße ich auf
radtouristische Infrastruktur. Diese ist jedoch eher auf die
Gelegenheitskurzstreckenradler ausgelegt. Als Reiseradler mit einigen
Kilometern vor der Brust, fühle ich mich manchmal genervt. Aber es ist
natürlich schon löblich, Rad- und Kraftfahrzeugverkehr voneinander zu
trennen.
Zu der Form von Tourismus kommt mir ‘Billigbudenzauber’ in den Sinn.
Leider finde ich kaum Gegenbeispiele, die dies entkräften könnten.

Hin und wieder gönne ich mir daher einen Blick auf das Meer. Das ist wenigstens eine ehrliche Sache. Ich entdecke eine Skulptur und schieße spontan ein Foto. Irgendwie finde ich das Motiv klasse. Bei der Weiterfahrt sinniere ich über einen möglichen tieferen Sinn, bringe es aber nicht auf den Punkt. Nun, bis zum Ende der Tour bieten sich mir ja noch reichlich Gelegenheiten, dieser Frage auf den Grund zu gehen.

Der Grenzübertritt ist dann zwar unspektakulär, aber völlig rummelig.
Ich hätte auch ehrlich gesagt nicht gedacht, dass der Unterschied
zwischen dem östlichen Mecklenburg Vorpommern und Polen derart deutlich
ist. Ich bin froh Swinemünde hinter mir zu lassen.
Bei der Weiterfahrt sind die Straßen mal gut, mal besonders schlecht.
Aber in jedem Fall sind die polnischen Autofahrer sehr viel
rücksichtsvoller als die westlichen Nachbarn.

Ich werfe den ein oder anderen Blick in überfüllte Küstenorte und an nette Strände. In Trzebiatow steige ich für die Nacht ab.
127 km, total 569 km
5. Tag, 10.08.2016
Was für ein Tag! So einen Tag erlebt man wohl auch nur auf Touren.
Facetten- und erlebnisreich mit breiter Abdeckung des Spektrums.
Nach den gestrigen ersten, doch gewöhnungsbedürftigen Eindrücken, fühle ich mich nun einigermaßen angekommen. Das liegt ganz stark daran,
dass ich neben touristischen Hot Spots auch normale, gewachsene Orten
mit ihrem Alltagsleben erlebe. Und das vermittelt einen ganz anderen und
vor allem angenehmeren Eindruck. Besonders gut gefällt mir Kolberg mit
seinem Hafen.

Kolberg verfügt auch über eine ausgeprägte Fahrradinfrastruktur.
Überhaupt wird hier viel mehr Rad gefahren, als ich gedacht hätte. Im
Alltag, zu Sportzwecken und im Urlaub sowieso. Auch einer handvoll
Tourenradler begegne ich.

Meine Route führt mich so gut es geht an der Küste entlang. Von der
Radwegetrasse mit Flüsterasphalt bis hin zum Schotterweg ist alles
dabei. Etliche Kilometer Spurplattenweg, die mit den Längslöchern (fährt
sich fast wie Radengitterstein), rangieren dabei im Mittelfeld.
Teilweise starker Verkehr, wie auch Straßen, deren seitlicher Meter
quasi für Fahrräder nicht befahrbar ist, kosten enorm viel
Konzentration.

Gutgemeinte Radwege mit längs verlegten Pflastersteinen sind für 28 mm Reifen die Hölle. Die Reifen fädeln immer wieder in die Rillen ein, was
das Fahren enorm unangenehm macht.
Insgesamt bin ich mit dem etwas kühleren aber sonnigen Tag voll zufrieden und komme glücklich in Ustka an.

In einer ex sozialistischen Ferienanlage finde ich ein passables
Quartier. Mein Rad soll draußen vor der Tür bleiben. Mit auf das Zimmer
darf ich es nicht nehmen. Ja ne, ist klar. Ich suche und finde einen
Nebeneingang ins Haus. Mein Rad schläft heute Nacht neben meinem
Bett…smile.
Ustka, 152 km, total 721 km
6. Tag, 11.08.2016
Regen prasselt an die Fensterscheibe. Ein schwerer Wolkenbruch geht
nieder. Dennoch nehme ich das Ganze nur gedämpft, wie in Watte gepackt,
wahr. Ich schlafe schon fast und bin mir nicht einmal sicher, ob ich das
nicht vielleicht nur träume. Es ist auch egal. Ich kuschel mich noch
tiefer in die Bettdecke und dämmere endgültig weg.
Ganz und gar nicht egal ist es mir, als ich am Morgen von schwerem
Regen, der an die Fensterscheibe prasselt, geweckt werde. Es reicht ein
Auge zu öffnen, um den bedrohlich herbstlichen Himmel zu inspizieren. Na
toll!
Der Frühstückssaal und das Buffet versprühen den unzuleugnenden Charme
der sozialistischen Herberge. Aber die Auswahl ist handfest und vor
allem gut für hungrige Radler. Obwohl ich gut zulange, beschleicht mich
das Gefühl, von allen Anwesenden am wenigsten zu verputzen. Was durch
die figürlichen Umrisse allerdings mehr als bestätigt wird. Da ist nix
mit Arbeitern und Bauern. Hier regiert der postsozialistische Wohlstand.
Beim Start regnet es noch immer heftig. Ich kurbel noch etwas durch den
Ort und am Hafen entlang, gönne mir noch einen Kaffee und dann geht es
unweigerlich los. Unterwegs nass zu werden ist eine Sache, im Regen zu
starten eine andere…

Ich folge der geplanten Route und fahre quer durchs Land in die grobe
Richtung Danzig. Aufgrund der gestrigen Erfahrung mit den Straßen bin
ich sehr skeptisch. Denn ich habe mir ausschließlich kleinere
Landstraßen ausgesucht. Allerdings werde ich auf das Angenehmste
überrascht. Im Großen und Ganzen rollt es recht gut und auf den üblen
Abschnitten herrscht so wenig Verkehr, dass ich mühelos die Linie der
geringsten Erschütterungen fahren kann.

Ich bin sehr froh mit meinem fernreisetauglichen Pure Bros unterwegs zu
sein. Mein Randonneur wäre hier mit der super sportlichen Auslegung fehl
am Platz. 2 bis 3 cm mehr Radstand, erreicht durch einen längeren
Hinterbau und einen flacheren Gabelwinkel, wirken bei fast gleicher
Oberrohrlänge eben doch wahre Wunder.
Das Touren gefällt mir hier abseits der touristischen Bereiche sehr gut.
Felder und Wälder wechseln sich ab. Die Topographie ist leicht wellig.
Ich komme durch aufgeräumte Dörfer und schätze die kleinen Läden als
Versorgungsstationen.

Aufgrund des mehr oder weniger ständigen Regens beschließe ich in Lebork
(Lauenburg in Pommern) nach 85 km ein Quartier zu beziehen. Mit Stand
gestern Abend liege ich rund 1 ¾ Tag vor meinem Zeitplan und kann mir
somit heute eine Halbetappe gönnen. Es bleibt mir ein Plus von 1 ¼
Tag.

(Mit 111 km pro Tag erreiche ich meine Fähre nach Travemünde
rechtzeitig. Großartige Puffer sind in meiner Planung nicht enthalten.
In Estland könnte ich zur Not abkürzen und rund 160 km einsparen. Im
Grunde basiert mein Konzept darauf, an guten Tagen Puffer für die
schlechten Tage zu erkurbeln. Bei dem flachen Gelände sollte das klar
gehen. Die große und wirklich spannende Unbekannte bleibt jedoch der
Straßenzustand. Nun, wir werden sehen…)
Lebork/Lauenburg i. P., 85 km, total 806 km
7. Tag, 12.08.2016
Neben Radfahren ist hier Schlafen meine Hauptaktivität. Ich genieße jede
Nacht neun Stunden erholsamsten Schlaf. Das schaffe ich kaum im Alltag.
Als beim Frühstück am Tisch gegenüber ein weibliches Wesen im Nachthemd
und seidenen Morgenmantel mit einem Kaffee Platz nimmt, träume ich
jedoch nicht mehr. Vielleicht ist sie ja irgendwie auf Montage. Viele
Landsleute arbeiten ja auswärts.

Anschließend hole ich mein Rad aus dem Konferenzraum, rüste auf und ab geht es. Die Route führt mich durch traumhafte Landschaften. Die Topographie ist recht bewegt. In den Höhen durchfahre ich Wälder mit kleinen Seen. In den unteren Lagen dominiert Agrarlandschaft mit entsprechenden Dörfern. Mir gefällt das alles bestens. Die Straßen sind super, bis auf ein paar Tropfen bleibt es trocken und der Westwind unterstützt noch immer. Noch nie bin ich fast eintausend Kilometer mit Rückenwind gefahren.

Die Peripherie von Danzig begrüßt mit dem angenehmen Hinweis, die
Autofahrer mögen einen Meter Abstand zu Radfahrern halten. Was sie auch
ausnahmslos tun. Leider habe ich meinen Hut vergessen. Danzig Downtown
überrascht mit einer ausgezeichneten Radinfrastruktur. Völlig stressfrei
gelange ich in die Altstadt. Und auch wieder heraus. Die Altstadt von
Danzig ist außerordentlich. Zum richtigen Genießen ist es jedoch
deutlich zu überlaufen. Ich cruise etwas herum und finde ein ruhiges
Café.


Ich möchte mir für morgen noch eine gute Ausgangsposition sichern. Der Vormittag war super und läßt sich mit Sicherheit nicht toppen. Daher versuche ich es auch gar nicht und halte es pragmatisch. Anstatt im Delta der Weichsel im Zickzack um irgendwelche Entwässerungsgräben zu kurven, donner ich Kette rechts und im Lenkeruntergriff auf der Nationalstraße 7 entlang. Die Geschwindigkeit pendelt sich zwischen 27 und 29 km/h ein. Das ist auch gut so, denn im Grunde gibt es dort nichts. Selbst dem Garmin wird langweilig und anstatt Ortschaften vorab zu melden, ist sein einziger Kommentar “Fährt südostwärts”.

Elblag (Elbing) wird mein Tagesziel und überrascht mich mit einer
schönen Innenstadt nach historischem Vorbild. Mein treues Rad schläft
wieder neben dem Bett.
Es sind noch etwa 60 Kilometer zur russischen Exklave Kaliningrad. Ich muss zugeben, die Spannung steigt enorm…
Elblag, 141 km, total 947 km
8. Tag, 13.08.2016
Es wird ein Tag mit Regen. So viel ist sicher. Der Blick in den Himmel
scheint den Wetterbericht zu bestätigen. Doch was ist auf so einer Tour
schon wirklich sicher? So ziehe ich die für den Start angelegte
Regenjacke wieder aus und wechsle zur Windweste, die mir bei dem
leichten Nieselregen als Schutz genügt.
Die Route führt am Rande eines Nationalparks entlang, dessen Namen ich
weder aussprechen noch schreiben kann, ohne irgendwelche Verknotungen zu
riskieren. Es sind auch ein paar Höhenmeter zu bewältigen. Rechts von
mir ist dichter Wald und nach links blickend, sehe ich bereits das Haff,
welches bis Kaliningrad reicht.

In Frombork an diesem Haff investiere ich mein restliches polnisches
Münzgeld in Illy Kaffee. Eine gute Investition. Und eine gute Pause.
Innerhalb kürzester Zeit treffe ich insgesamt fünf Tourenradler. Ortlieb
Packtaschen sind quasi das D-Schild der Tourenradler. So komme ich mit
einem Berliner Paar ins Gespräch. Sie sind ebenfalls auf dem Weg nach
Norden und fiebern auch dem Grenzübertritt entgegen.

Die Sonne kommt heraus und nach wenigen Kilometern erreiche ich den
Grenzübergang. Bis auf eine handvoll Pkw gibt es nicht viel
abzufertigen. Vielleicht auch deshalb verfolgen die Grenzer ihren Job
extrem akribisch. Es hat definitiv etwas Respekt einflößendes und sollte
äußerst ernst genommen werden. Ich muss zugeben, dass die Grenzer auf
mich bedrohlich, wie Vergessene aus dem kalten Krieg, wirken.
Nach diversen Schlagbäumen und verschieden Uniformierten bin ich mit der
Pass Prozedur durch und glaube einreisen zu können. Aber-Überraschung!
Eine sehr streng schauende Grenzerin verlangt die Öffnung einer
Packtasche. Oh nein! Sie weist ausgerechnet auf die rechte Tasche, die
Werkzeug, Ersatzteile und technischen Kram enthält. Ich erinnere mich an
die letztjährigen Komplikationen am Istanbuler Flughafen und rechne mit
dem Schlimmsten. Also packe ich ruhig aus und erläutere jeden
Gegenstand wie bei der Sendung mit der Maus. Ich bin ziemlich sicher,
dass sie das Zeugs überhaupt nicht interessiert, sondern sie mich
einfach etwas provozieren und testen will. Da ich mich völlig
unbeeindruckt zeige, kann ich nach dem vierten Teil wieder einpacken. -
Ich bin drin.
Russland empfängt mich freundlich. Die Straßen sind top. Fahrzeug und
Fahrweise haben deutlich Luft nach oben. Aber zum Glück sind die Straßen
breit genug. Mit den Menschen werde ich auf Anhieb warm.

Glücklicherweise ist es Samstag Nachmittag. Somit gelange ich entspannt über mehrspurige Ausfallstraßen in die Stadt Kaliningrad. Wochentags ist das bestimmt ein anderer Schnack. Seit der Grenze navigiere ich hybrid, halb GPS und halb Old School. Herr Garmin kennt hier keine Kartengrundlage. Somit folge ich meinem geplanten Track auf weißem Untergrund. Eine vorher nicht bekannte Unterkunft aufzusuchen, erfordert schon eine gewisse Kreativität.

Bereits am frühen Nachmittag bin ich geduscht und stadtfein. Kaliningrad
hat viele Gesichter und die Stadt beginnt mich zu faszinieren. Die
Sonne scheint, Menschen flanieren über ihre Lieblingswege durch Parks
und an Stadtkanälen entlang. Und sie haben sich dazu schick angezogen.
Welch wunderbarer Kontrast zu dem “Bierbauch-Hemd über
Dreiviertelhose-Outdoorsandalen mit Socken” - Bild, das sich mir von
der deutschen und polnischen Ostseeküste so eingebrannt hat.
Kaliningrad, 111 km, total 1.058 km
9. Tag, 14.08.2016
Mich hat der Gedanke gelockt, einen Tag in Kaliningrad zu verweilen.
Aber einerseits ist mein Zeitplan etwas knapp und andererseits finde ich
den Gedanken mich zur morgendlichen Hauptverkehrszeit aus Kaliningrad
heraus zu ackern wenig erquickend.
So nutze ich die morgendliche sonntägliche Ruhe, um aus der Stadt heraus
zu kommen. Und auch das hat seinen eigenen Reiz. Der Stadt beim
Erwachen zuzuschauen. Die Stadt in der russischen Exklave tickt nicht
viel anders als westliche Großstädte. Hundebesitzer führen ihre
Vierbeiner Gassi, sportlich gestylte Menschen joggen in Parkanlagen,
alte Frauen nehmen den beschwerlichen Weg zur Kirche auf sich.
Deutlich leichter als erwartet gelange ich mit meiner speziellen Navigation in die Peripherie der Stadt. Manche Ausfallstraßen weisen sogar Radwege auf. Mir begegnen zu der frühen Stunden, trotz des wechselhaften Wetters, auch einge Rennradler. Die im Übrigen ebenso auf der Straße fahren, wie ich auch. Es rollt dort einfach besser und es herrscht kaum Verkehr. Und alle grüßen freundlich, was mir in Polen niemals passiert ist.

Quietschvergnügt über das problemlose Vorankommen steuer ich auf die Kurische Nehrung zu. Und es kommt, wie es kommen muss. Irgendwann geht die Nationalstraße in eine Autobahn über und kein Verkehrsplaner hat an die Radfahrer gedacht. Noch bevor ich meine Optionen durchdenken kann, entdecke ich einen Rennradfahrer auf der Autobahn. Er kommt in meine Richtung. Ich wechsel schnell die Seite, um ihn abfangen zu können. Radfahrer kennen keine sprachlichen Barrieren und schnell ist mein Problem erläutert. Gelassen deutet er mir an, es gäbe keine Alternative und ich solle einfach bis zur nächsten Abfahrt die Autobahn benutzen. Na dann ist es eben so. Wir schießen noch ein Selfie und wünschen uns einen guten Weg. Ich habe ja eh ein Faible für Radeln auf Autobahnen und muss schmunzelnd an Tirana in Albanien denken (Transcontinental Race 2015).

In Zelenogradsk bekomme ich den garantiert besten Kuchen der ganzen Tour serviert. Was Elena, das Café ihrer Mutter und der Song “Wind of change” (ich glaube von den Scorpions) damit zu tun haben, würde hier zu weit führen. Erst über eine Stunde nach dem ersten Kaffee breche ich dann doch auf. Zum Glück ist es draußen kühl und windig. Denn dadurch realisiere ich nach rund einhundert Metern, dass Helm und Kappe noch im Café liegen.

Die Kurische Nehrung mit rund 100 km wildem Sandstrand beeindruckt mich
sehr. Ein steifer Westwind lässt die Brandung auf den Strand rollen und
das gewaltige Rauschen begleitet mich während der gesamten Passage.
Auf etwa der Hälfte der Strecke steht der Grenzübertritt nach Litauen
an. Mein Fahrtag verkürzt sich ad hoc um 1 ½ Stunden. Trotz dreisten Vordrängelns an den Autos vorbei, schaue ich mir über eine halbe Stunde
lang verschiedene Schlagbäume an, vor denen ich warten muss.
Mit der erfolgreichen Einreise nach Litauen darf ich dann umgehend meine
Uhr eine Stunde vorstellen. Ich befinde mich in der Zeitzone der
osteuropäischen Sommerzeit (UTC + 3 Stunden). Die Pause in Nida mit dem
skandinavisch baltischem Charme ist absolut nett. Im Anschluss geht es
dann forsch nach Klaipeda. Schließlich schreitet die Zeit weiter voran.
Der Radweg ist übrigens total empfehlenswert. Es rollt nicht viel
schlechter als auf der Straße und ich werde von der Straße weggeleitet
und fahre direkt am Dünengürtel entlang. Ein paar Schritte die Dünen
hinauf und ich kann auf das Meer schauen. Ein Traum!

Klaipeda, 147 km, total 1.205 km
10. Tag, 15.08.2016
Eine neue Erfahrung! Also nicht ganz neu, aber neu für diese Tour.
Gegenwind! Und zwar nicht zu knapp. Nachdem ich mit Rückenwind bis nach
Kaliningrad gekommen bin, wendet sich das Blatt nun.

Anfangs schützen mich noch Bäume und der Dünengürtel. Denn ich bin, ohne
es bewusst geplant zu haben, auf der Route eines Fernradweges
unterwegs. Und diese führt mich von Klaipeda über rund 40 km fast bis an
die Grenze zu Lettland. Mit einer hervorragende Oberfläche schlängelt
sich der Weg fernab von Straßen direkt an der Küste entlang. Ein
absolutes Highlight. Immer wieder nutze ich die Chance für einen Moment
am Wasser zu verweilen und auf’s Meer zu schauen. Auch deswegen bin ich
hier.


Die letzten Kilometer zur Grenze offenbaren, was die Straßenkarte
gestern am Abend schon angedeutet hat. Lange Geraden und quasi keine
Ortschaften. Auf rund 60 km! Bei Starkwind von vorne links. Zum Glück
fahre ich so etwas nicht zum ersten Mal.
Ich greife den Lenker tief, mache mich klein und versuche so dem Wind zu
trotzen. Da muss man dann eben für zweieinhalb Stunden mal durch. Zu
sehen gibt es nichts mehr aufregendes. Wald, Heide und Wiese im Wechsel.
Ich stelle den Garmin Navigator so ein, dass ich die nächsten 60 km in
dem Minidisplay komplett überblicken kann und schalte auf Autopilot.
Ein Auge für die Straße und eins nach innen gewandt für Gedanken.
Gedanken, die liegen geblieben sind, weil im Alltag mal wieder nicht
genug Zeit dafür war. Gerade auf solchen Streckenabschnitten genieße ich
die (für mich) kontemplative Seite des Radfahrens.

Kurz vor Nica (etwa ¾ der Strecke) realisiere ich, dass die
Häuseransammlung groß genug für einen Krämerladen sein könnte. In der
Tat stoße ich erfreut auf einen Laden. Und auf ein Radlerpaar aus Ulm.
Das Hallo ist groß und wir freuen uns nach den einsamen Kilometern erst
recht über einen Austausch.
Die beiden sind etwa in meinem Alter und haben vor erst zwei Jahren das
Radreisen entdeckt. Damit es leistungsmäßig zusammenpaßt, fährt sie ein
E-Bike. Sie sind auf Usedom gestartet und fahren bis nach Vilnius.
Größtenteils sind wir die selbe Route gefahren. In Kaliningrad haben wir
sogar im selben Hotel genächtigt (an verschiedenen Tagen). Es ist total
interessant, wie unterschiedlich unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen
dennoch sind.
Den beiden gebührt mein voller Respekt! Ich finde es total super, wie
die beiden unterwegs sind. Wer etwas will, findet eben Wege.
Auf dem Weg nach Liepaja erwischt mich dann noch ein formidables
Unwetter. Natürlich gibt es hier keinerlei Unterstellmöglichkeiten. So
einen Starkregen habe ich auf der ganzen Tour noch nicht erlebt. Und der
gestrige Vormittag war schon nicht wirklich trocken. Westlich von mir
zieht der Rüssel einer Windhose seine Bahn. Ich behalte die Sache im
Auge, halte sie jedoch von der Zugrichtung her für unkritisch.
Ursprünglich wollte ich 50 km weiter fahren, wo es die nächsten
Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Angesichts des Wetters lasse ich es
jedoch für heute gut sein. Immerhin gelingt es mir nachmittags zwischen
zwei Wetterfronten den netten Ort zu erkunden. Eine überschaubare Stadt
mit Straßenbahn, Holzhäusern einer kleinen Universität und vielen jungen
Leuten.
Liepaja, 105 km, 1.310 km
11. Tag, 16.08.2016
Herzlich willkommen in Liepaja! Liepaja ist die Stadt der Winde…- so
die Touristik Broschüre. Und was soll ich sagen? Stimmt! Und zwar die
Stadt der nördlichen Winde. Der 6 bis 7 Beaufort starken Winde um genau
zu sein. Das Ganze wird zur Frühstückszeit von schweren Regenfällen
begleitet. Das Wetter wird zwei bis drei Tage Bestand haben und vor mir
liegen 200 Kilometer eines eher ausgedünnten Küstenabschnittes.
Ortschaften sind selten, Übernachtungsmöglichkeiten mit festem Dach über
dem Kopf noch seltener. Ich entscheide mich für einen Pausentag. Nach
10 Tagen im Sattel und 1.310 zurückliegenden Kilometern kann ich das gut
mal haben.

Liepaja/Liebau ist seit über 750 Jahren besiedelt und gegenwärtig leben,
arbeiten und studieren hier rund 70.000 Menschen. Mit der netten
Innenstadt kommt mir die Stadt allerdings sehr viel kleiner vor.
Speichergebäude, Holzhäuser und Jugendstilarchitektur prägen das
Stadtbild.

Mit dem Eisenbahnabschluss von 1869 entwickelte sich Liebau zu einem
bedeutenden Industriezentrum. 1899 wurde die erste elektrische
Straßenbahn des Baltikums in Betrieb genommen. Der Orts- und
Hafenbereich Karosta wurde zu einer großen Flottenbasis ausgebaut.
Zwischen 1906 und 1914 gab es direkten Schiffsverkehr nach New York und
mehrere hunderttausend Auswanderer nutzten diesen Hafen.
Unter sowjetischer Führung wurden zwischen 1945 und 1990 Industrie- und
Fischereibetriebe eingerichtet. 1974 hatte Liebau rund 100.000
Einwohner. Mehr als die Hälfte waren aus Russland angeworbene
Arbeiterfamilien. Seit 1995 erblüht die Wirtschaft wieder. Schwerpunkte
sind Stahlwaren, Möbel, Textilien und ein wachsender
Dienstleistungssektor.

Ich bin gestern (für 35,-Euro) im Fontaine Hotel Royal abgestiegen und
verlängere meinen Aufenthalt um eine Nacht. Das Haus liegt an der
beliebten Hafenpromenade. Zu Sowjetzeiten war dies ein gesperrter
Bereich. Nun siedeln sich hier Gastronomie-, Hotelbetriebe, Musik Clubs
und Szenetreffs an. Der Kontrast zwischen alter Industrie-
/Hafenumgebung und aufstrebender Eleganz sorgt für einen charaktervollen
Charme.
Mit Spazierpassagen zwischen den Schauern, Caféaufenthalten, Leute
gucken und das Treiben der Stadt verfolgen, verbringe ich den Vormittag.
Für den Nachmittag nehme ich mir den Besuch der hauseigenen Sauna vor.
Draußen ist es eh mehr Herbst als Sommer. Alles in allem hätte ich es
heute schlechter treffen können…smile.

12. Tag, 17.08.2016
Der Plan sah Nieselregen vor. Wieso der Plan? Die gestrige Überlegung zu
dem Pausentag basierte auf der Abwägung, Starkwind von vorne,
stürmische Böen und sintflutartige Regenschauer (gestern) gegen
Dauerniesel und mäßigen Gegenwind einzutauschen. Also die Front
durchziehen zu lassen, um anschließend im Warmluftsektor zu fahren.
Bis zum Frühstück geht die Rechnung auf. Just zum Start regnet es
richtig stark. Egal. Kette noch einmal schmieren und los. Nach zehn
Minuten ist der Zauber zum Glück vorbei. Es bleibt eine Weile trocken,
bis dann Nieselregen einsetzt. Dieser hält den ganzen Tag an und wird
zwischenzeitlich durch normalen Regen verstärkt, welcher allerdings nie
länger als eine Viertelstunde anhält.

Das Radfahren ist heute durch ganz viel geradeaus geprägt. Die Straßenqualität reicht von Flüsterasphalt (wahrscheinlich EU Ruhezonen konform) über Brüllasphalt (festgefahrener Splitt, Mindestgröße 15 mm) bis hin zu Naturstraßen. Und alle denkbaren Zwischenstufen. Interessant sind auch Flickenasphaltdecken oder Spurrinnen, so tief, dass man mit der Kurbel Bodenkontakt bekäme. Zudem stehen die Rinnen derart voll Wasser, dass Lkw-Reifen Wasserfontänen von eineinhalbfacher Lkw-Höhe produzieren. Heute ist also nichts mit Autopilot. Höchste Konzentration ist angesagt. Obwohl es nur geradeaus geht.

Ausgerechnet auf einer der Naturstraßen kommen zwei Hunde bellend auf
mich zu. Zum Glück kommen sie von vorne und nicht aus dem Hinterhalt,
wie letztes Jahr auf dem Balkan. Jedenfalls sehen die beiden Burschen
schon aus der Ferne mächtig groß aus. Ich fahre halb ins seitliche Grün,
stoppe mein Rad, greife mein Messer und schneide mir aus einer Art
Weidebusch einen elastischen Zweig. Mit einem Auge taxiere ich permanent
den geringer werdenden Abstand der beiden Hunde. Es bleibt mir genügend
Zeit schnell noch ein paar kleine Zweige zu entfernen. Dann kehre ich
auf die Straße zurück und positioniere mich so, dass ich mein Fahrrad
zum Schutz vor mir habe. Ich halte es mit der linken Hand. In der
rechten Hand führe ich den Zweig.
Dann sind die Tölen auch schon bei mir. Trifft man auf einen Hund,
funktioniert das mit dem Rad als Barriere hervorragend. Bei zweien ist
es natürlich schwerer. Ich beobachte die Viecher ganz genau, um ihre
Absichten einschätzen zu können. Richtig freundlich wirken sie beide
nicht. Dennoch scheint einer eher neugierig zu sein, während der andere
aggressiv die Zähne fletscht. Also halte ich diesen mit dem Rad auf
Abstand. Der eine Köter ist weiß und der andere schwarz. Witziger Weise
ist der Schwarze der Aggressive.
Ich versuche ihm verständlich zu machen, dass ich ihn mit dem Geruch
eines meiner Überschuhe betäuben werde, wenn er nicht abzieht. Entweder
versteht er es nicht richtig oder eben doch. Jedenfalls wird er immer
aggressiver und aufdringlicher. Ich schaue ihm ganz tief in die Augen,
was ihn natürlich noch wilder macht. Aber auch unaufmerksamer. Er
versucht sich noch zu ducken, als er (für ihn) viel zu spät merkt, dass
der Peitschenhieb auf ihn nieder geht. Es nützt ihm jedoch nichts. Ich
lande einen kapitalen Volltreffer. Der Hund tut mir fast schon ein
bisschen leid, so wie er jault. Aber wir sind hier ja nicht in der
esoterischen Hundeschule, sondern auf der Straße. Und da gelten eigene
Gesetze. So schnell wie sie erschienen sind, verschwinden sie nach dem
Zwischenfall auch wieder. Der weiße Hund schwanzwedelnd, der andere mit
eingeklemmten Schwanz. Manchmal ist das Leben eben doch schwarz und
weiß.
Warum ich das in epischer Breite beschreibe? Nun, einerseits war es der
Aufreger des Tages und andererseits möchte ich dazu sensibilisieren,
dass sich Radtourenfahrer mit dem Thema auseinandersetzen und sich VOR
Touren überlegen, wie sie solchen Situationen begegnen. Gerade derart
abseits wie heute, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass so eine
Situation auch ganz leicht kippen kann.
Die Situation ist allerdings in keinster Weise typisch für das Baltikum
und kann wohl eher als Ausnahme betrachtet werden. Ich hatte hier bisher
jedenfalls keine erwähnenswerten Begegnungen mit Hunden.

Ansonsten geht es eben weiter geradeaus durch den Nieselregen. Ich
rechne auf der gesamten Strecke nicht wirklich mit
Versorgungsmöglichkeiten. Kurz vor dem Abzweiger nach Pävilosta lege ich
mich darauf fest, zu versuchen dort ein Käffchen zu ergattern, sofern
die Straße dorthin asphaltiert ist. Andernfalls hätte ich mich mit einem
Energieriegel und einem Schluck aus der Flasche begnügt. Immerhin sind
es drei Kilometer zu dem kleinen Hafenort. Und die sind jeden Meter
wert. Denn in dem grauen Ort, bei diesem grauen Wetter, funkelt mich ein
rotes illy-Schild an.
In einem verblüffend stylischem Café servieren junge Leute einen sehr ordentlichen Kaffee. (Und Kuchen…)
Damit ist der Tag gerettet und es kann anschließend weiter nach Ventspils gehen.

Ventspils, 125 km, total 1.435 km
[Zur Fortsetzung geht es HIER].