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Historische Infos in Blog-Form
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"Unverhofft kommt oft!"

Vor einigen Wochen besuchte ich auf einer spontanen Runde auf dem Fahrrad den Vorsitzenden unseres Dörpsvereens Efkebüll e.V.. Er wohnt in einem der schönsten Reetdachhäuser im Dorf, der ehemaligen Efkebüller Schule, gebaut 1860 auf der Hunneswarft. Bis 1964 wurde hier einklassig unterrichtet. Die Wandtafel hängt heute noch am ursprünglichen Platz. Mit Volker, der vor einigen Jahren hierher zog, hat das Haus auch wieder einen „Schulmeister“, allerdings einen im Ruhestand.

Ich klingelte an der Tür und Volker öffnete mit den Worten: „Oliver, schön, für Dich hab` ich was! Komm mal mit!.“ Wir gingen in sein Büro und er überreichte mir ein paar tolle Aufnahmen von Radfahrern um die Jahrhunderwende, die er vor einiger Zeit auf einem Flensburger Flohmarkt entdeckte. Ich war erstmal Baff und bedankte mich, vermutlich mehrmals, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. So erreichten mich völlig unverhofft diese schönen Bilder. Gruß aus Efkebüll, Olli

Eventuell ein Mitglied des Flensburger Radfahrer-Vereins von 1884

Milchbärte auf Halbrenner

Großartige Fahrmaschinen!

„130 Jahre“ Flensburger Radfahrer-Verein von 1884

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Abb. 1: Die Rennmannschaft des Flensburger Radfahrer-Vereins 1895

Von Oliver Leibbrand

Am 4. Oktober 1884, am Tage der totalen Mondfinsternis, traten 13 Herren zusammen und gründeten den Flensburger Radfahrer-Verein von 1884, heißt es im Gründungsprotokoll. Eine enge Freundschaft verband den Verein mit dem Altonaer Bicycle-Club von 1869/80. Beide lagen im Gau 31 (Schleswig-Holstein), pflegten das Wanderfahren, betrieben und bauten eigene Radrennbahnen und waren im Saalsport sowie im Radball aktiv. Auch Saalfeste waren fester Bestandteil der Vereinskultur im Flensburger Radfahrer-Verein. Mit Ernst Meyer hatten die Flensburger einen erfolgreichen Rennfahrer in ihren Reihen, dem es 1896 und 1897 gelang, die Fernfahrt Hadersleben-Hamburg zu gewinnen.

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Abb. 2: Ernst Meyer, zweifacher Hadersleben-Hamburg Gewinner

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Abb. 3: Die stolze Saalmannschaft 1900

Nach dem 2. Weltkrieg gingen die Mitgliederzahlen stark zurück und der Verein konzentrierte sich nur noch auf das Wanderfahren und Radballspiel. Während der Verein in seinen „Glanzzeiten“ um die 100 Mitglieder hatte, schrumpfte er in 1970er Jahren auf unter 20 Mitglieder. 1984, kurz vor dem 100jährigen Jubiläum, wurde der Verein als Radfahrabteilung beim Sportverein Adelby von 1950 e.V. aufgenommen. Dort wird heute noch aktiv Radball gespielt und Radwandern angeboten.

Bargum, den 07. Oktober 2014

Handbuch des Radfahr-Sport (1895)

Moriz Band, Handbuch des Radfahr-Sport. Technik und Praxis des Fahrrades und des Radfahrens, Lemgo: Johann Kleine Vennekate Verlag, 2013 (Erstaufl. 1895), 319 S., 25,00 EUR.

Von Lars Amenda

„Wie selten ein Sportzweig ist das Radfahren in alle Kreise der civilisirten Welt, in alle Fasern des modernen Verkehrslebens eingedrungen und kaum einen Rivalen hat das ‚Stahlrad’ in der Gunst von Jung und Alt zu fürchten. Nach einem halben Jahrhundert langsamer Entwicklung ist die Fahrradindustrie und der Radfahrsport auf jenem hohen Punkte angelangt, von dem aus das Radfahren zu einem bedeutenden Factor im öffentlichen Leben geworden ist.“ (S. VII)

Mit diesen triumphierenden Worten eröffnet der österreichische Kulturkritiker Moriz Band (1864-1932) sein „Handbuch des Radfahr-Sport“. Das Handbuch bot dem Fahranfänger eine umfassende Einführung und dem bereits geübteren Fahrer ein detailliertes Nachschlagewerk. Gegliedert ist das Buch in fünf Haupteile, die jeweils das Fahrrad, das Radfahren, das „Rennfahren“, Tourenfahren und schließlich das „Radfahren der Damen“ behandeln.

Im ersten Teil stellt Moriz Band ausführlich die Technik und Funktionen des Fahrrads vor. Mittels zahlreicher gezeichneter Abbildungen erläutert er Rahmen, Reifen, Lenker, Sattel, Lager, Naben, Lampen, aber auch Zubehör wie Taschen und Werkzeug. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 1895 hatte sich das luftbereifte Niederrad innerhalb weniger Jahre etabliert und vollständig durchgesetzt. „Wie sich das Niederrad im Fluge die Welt erobert, so folgte ihm  auch das Pneumatic [= Luftreifen], und diesem ist zum grössten Theil der Siegeszug des Niederrades zu verdanken.“ (S. 66f) Die zurückliegende Phase der Hochräder wertet Moriz Band als eine Irrung ab und die nur noch wenigen Hochradfahrer Mitte der 1890er Jahre tituliert er gar als „radfahrende Sonderling[e]“. (S. 87) 

Das folgende Kapitel widmet sich dem Radfahren und wirkt heute bisweilen unfreiwillig komisch. Band erklärt den Auf- und Abstieg, gibt Tipps bezüglich Kleidung und Ernährung und warnt eindringlich vor einer zu sportlichen Haltung auf dem Rade. Der sportliche Fahrer, „der mit geducktem Schädel und krummen Rücken, halb Circusclown, halb Sportgigerl, auf seinem Gestelle fortwurstelt“ (S. 135), wird von ihm kritisiert und ein wenig lächerlich gemacht. Neben angeblichen gesundheitlichen Gefahren gehe es in dieser Frage um die allgemeine „Haltung“ des Fahrers, die hier zum Vorscheine komme und nach bürgerlichen Gustus eben nicht zu gekrümmt, sondern eine gerade zu sein hatte.

Etwas überraschend wirkt deshalb die lobende Würdigung des Radrennfahrers in darauf folgenden Kapitel: „[D]er Rennfahrer repräsentiert das Vollblut unter den Radfahrern und dient, sofern er Erfolge aufzuweisen hat, als leuchtendes Vorbild für seine Sportgenossen.“ (S. 174) Band erläutert das Fahren und die Regeln auf der Bahn, die Prinzipien des Trainings und die Relevanz einer sorgfältig ausgewählten Ernährung. Bei Letzterer rät er zu magerem Fleisch und rät vom Verzehr von Gemüse und Mehlspeisen ab (S. 143); Alkohol sei – bis auf verdünnter Weißwein – ebenfalls nicht vorteilhaft. Das Kapitel schließt mit den umfangreichen „Wettfahr-Bestimmungen“ des Deutschen Radfahrer-Bundes (S. 205-281).

Sehr positiv bewertet Moriz Band das „Tourenfahren“, das dem „Wanderleben“ neue Impulse gegeben haben. Das moderne Fahrrad habe räumliche und mentale Grenzen überwunden; „im Zeitalter der Distanzfahrten“ imponiere die Menschen „höchstens eine noch eine Radreise um die Erde, wie sie auch thatsächlich bereits gemacht wurde“. (S. 285)   Der Verfasser befürwortet zum Schluss das Radfahren der Frauen, die das „dasselbe Anrecht auf die ebenso angenehme als zuträgliche Leibesübung und die damit verknüpften Genüsse“ hätten wie die Herren. (S. 304)

Das „Handbuch des Radfahr-Sport“ stellt zusammengefasst ein aufschlussreiches historisches Dokument dar, das die Erfolgsgeschichte des modernen, luftbereiften Fahrrads widerspiegelt und diese im überschwänglichen Tonfall bejubelt. Die Neuauflage des Buches hat ein anderes Umschlagbild als die Erstauflage erhalten, was meiner Meinung hätte erwähnt werden sollen. Auch die nicht immer in bester Druckqualität wiedergegebene Schrift scheint mir vergrößert worden zu sein. Diese Kritikpunkte schmälern den Wert und den heutigen Lesegenuss von Moriz Bands bald 120 Jahre altem Handbuch glücklicherweise jedoch nur unwesentlich.

Hamburg, den 30. September 2014

Innenansichten des Vereins – der ABC-Jahresbericht 1892

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Von Lars Amenda

Vereine müssen regelmäßig Versammlungen abhalten, Protokolle darüber verfassen, Berichte schreiben und turnusmäßig schriftlich Rechenschaft ablegen. So lästig dies für die Verantwortlichen bisweilen sein mag, so wertvoll sind solche Dokumente in der Zukunft doch als historische Zeugnisse, insbesondere dann, wenn keine Beteiligten mehr befragt werden können. Eine solche, wertvolle Quelle stellt der Jahresbericht des ABC für das Jahr 1892 dar (das Jahr reicht in diesem Fall vom 1. Oktober 1891 bis zum 30. September 1892).

Viele aufschlussreiche Details lassen sich dem Jahresbericht entnehmen. Der ABC befand sich in einer Blütezeit, das dokumentiert auch die steigende Mitgliederzahl von 73 auf 88 männliche Personen. Das „Mitglieder-Verzeichnis“ (S. 15f) enthält neben den Namen und dem Wohnort auch den „Stand“, den Beruf, und die Auflistung unterstreicht die bürgerliche Ausrichtung des Vereins. Viele Mitglieder sind Kaufleute, auch Weinhändler, „Conditoren“ und Braumeister finden sich: Mit C. Raabe ist auch ein „Reisender“ verzeichnet – ob er seine Reisen auf dem Rade unternommen hat, ist leider nicht bekannt.

Im erwähnten Zeitraum wurden insgesamt drei Generalversammlungen abgehalten, die jeweils rund 20 Mitglieder aufsuchten. Am 28. Oktober 1891 beschloss der ABC beispielsweise, „12 Saalmaschinen anzuschaffen“. Auch in modischen Dingen gab es Diskussionen und eine Einigung: „Der Club-Anzug wird wie folgt bestimmt. Jacket einreihig, Farbe des Anzug dunkelblau.“ (S. 2) Zudem fanden wöchentlich „Club-Abende“ statt, die „durchgehend gut besucht“ waren. (S. 3)

Aufs Fahrrad schwangen sich die Mitglieder selbstverständlich auch. 27 „Saal-Fahrabende“ wurde abgehalten, die meisten im „Englischen Garten“ in der Großen Freiheit und einige wenige bei „Sagebiel“ in Blankenese. Der ABC veranstaltete zudem 19 „Sommerfahrten“, beispielsweise nach Buxtehude, nach Lübeck, eine „Nachtfahrt nach Bramstedt“ (27./28. August), eine „Bummeltour“ nach Wedel (12. Juni), nach Glückstadt usw. Die Teilnehmerzahlen lagen bisweilen um die 20, zumeist aber unter zehn Personen. Ingesamt enttäuschten die Zahlen den ABC-Vorstand: „Die Beteiligung an den Clubfahrten ist angesichts der grossen Mitgliederzahl eine sehr schwache gewesen.“ (S. 8)

Feierlichkeiten und Feste bildeten 1892 einen Schwerpunkt der Vereinsaktivitäten. So feierten die ABC-Mitglieder am 3. Januar 1892 nachträglich Weihnachten; am 21. Januar 1892 wurde ein Gala-Radfahrfest“ zugunsten der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger veranstaltet; am 3. März folgte ein „Grosses Gala-Radfahrfest“ im Englischen Garten; am 4. April wurde es mit dem „Grossen Concurrenz-Saalfest“ wieder sportlicher. Bei den Festen wurden auch einige alkoholische Getränke konsumiert, wie dem Bericht zu entnehmen ist: Nach dem Fest am 21. Januar ereignete sich beispielsweise Folgendes: „Das hierauf folgende Kränzchen verlief sehr heiter. Mit einer gemütlichen Breakfahrt, morgens 3 ½ Uhr, nach Altona (bei 15° Kälte) endete das Fest. Einer ging leider im Schnee verloren.“ (S. 5)

Neben diesen Anekdoten findet sich auch die „große Geschichte“ im Jahresbericht wieder. Am Himmelfahrtstag, am 26. Mai 1892, veranstaltete der Deutsche Radfahrer-Bund unter maßgeblicher Beteiligung und Initiative des ABC eine „Huldigungsfahrt“ zu Fürst Bismarck im Sachsenwald. Rund 1200 Radfahrer ehrten damit den Politiker, der maßgeblichen Anteil an der Gründung des Deutschen Reiches 1871 hatte. „Der A. B.-C. v. 69/80 hatte als ältester Verein die Ehre, inmitten der Huldigungsgruppe ein Ehrenspalier zu bilden. Zu diesem Zweck entsandte man sämtliche Saalmaschinen, sowie Banner und Schärpen nach Friedrichsruh.“ (S. 6) Über die „Huldigungsfahrt“ werden wir beizeiten an dieser Stelle noch einmal ausführlich berichten.

1892 ereignete sich in Hamburg mit der verheerenden Choleraepidemie seit dem späten August eine städtische Katastrophe, die ebenfalls einen Widerhall findet. „Wegen der herrschenden Cholera-Epidemie wurden keine weiteren Clubfahrten angesetzt.“ (S. 8) Annähernd 10.000 Menschen starben aufgrund der Cholera; wer es einrichten und es sich leisten konnte, verließ fluchtartig Hamburg. In Altona breitete sich die Epidemie übrigens kaum aus, da hier bereits moderne Wasserfilter-Anlagen vorhanden waren.

Zahlreiche weitere Details können dem Jahresbericht entnommen werden. Neben den Finanzen, die wir hier einmal übergehen, ist das „Inventar-Verzeichnis“ aufschlussreich (S: 14). Der ABC verfügte über „2 gr. Clubbilder, 1 Gruppenbild“ und „2 Vorstandsbilder“. Im Clublokal „Hotel zu Sonne“ befanden sich ein „Banner mit Futteral“, 18 Schärpen und einige Publikationen wie drei Ausgaben der Zeitschrift „Das Stahlrad“ und das „Handbuch des Bicycle-Sport“. Auch die „Stiftungen“ seien abschließend noch kurz erwähnt. Gregers Nissen vermachte dem ABC „15 von demselben komponierte und dem A. B.-C. v. 69/80 gewidmete Tourenmärsche“, der bekannte US-amerikanische Kunstradfahrer Nick Kaufmann (1861-1943), „Kunstmeisterfahrer der Welt“, schenkte dem Club „sein Portrait“. (S. 9)

Der Jahresbericht 1892 verdeutlicht damit, zusammengefasst, die fahrradhistorische Bedeutung des ABC, gibt aber auch wertvolle Einblicke in das „gesellige“ Vereinsleben, das wesentlich zur Attraktivität des Clubs zu jener Zeit beitrug.

Jahresbericht des Altonaer Bicycle-Clubs von 1869/80. Aeltester Bicycle-Club der Welt. Vom 1. Oktbr. 1891 bis 20. Septbr. 1892, Altona: ABC, 1892 (Internationales Radsportarchiv Bad Münstereifel)

Hamburg, den 18. September 2014

"Velocipéden-Wettreiten" in Altona 1869

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Anzeige zur Industrieausstellung in Altona 1869. Hamburger Nachrichten, 10. September, 1869, Nr. 212, S. 4.

Von Oliver Leibbrand

Vor 145 Jahren fand im Rahmen der Altonaer Landes-Industrieausstellung (27. August bis 27. September 1869) eines der ersten Velozipedenrennen in Deutschland statt. Durch die Besucher der Pariser Weltausstellung 1867 und durch Zeitungen, wie die Leipziger Illustrierte, waren Velozipedenkonstruktionen auch hierzulande bekannt geworden. Bis Ende der 1860er Jahre entstand eine kleine Frontkurbelvelozipedenindustrie, die sich nun in Altona traf, um öffentlichkeitswirksam ihre „Veloziped-Systeme“ in Szene zu setzen.

Mit über 3.500 Ausstellern war diese Austellung eine ideale Gelegenheit auf den Sport und die Frontkurbelvelozipede aufmerksam zu machen. Für noch mehr Anziehungskraft sorgte ein Pferde- und Elephantenrennen, das im Vorfeld ausgetragen wurde. Danach wurden drei Velozipdenrennen über 750, 1.000 und 1.500 Meter, in zwei Abteilungen je 6 resp. 8 Herren, ausgefahren. Es folgte ein Entscheidungsrennen über 500 Meter zwischen den beiden zuerst Angekommenen. Wegen des Velozipeden-Wettreitens hatte man die Eintrittspreise zur Aussstellung an diesem Tag um einen Thaler erhöht.1

Organisiert und durchgeführt wurde das „Velocipéden-Wettreiten“ vom St. Georger Vélocipéden-Club (St.GVC) und vom Eimsbütteler Vélocipéden-Reit-Club (EVRC seit 1881 Altonaer Bicycle-Club von 1869/80). Sowohl im St.GVC, als auch im EVRC, waren Velozipeden-Fabrikanten vertreten. Gleich im ersten Rennen starteten mit dem Kaufmann Harro Feddersen, damals Zahlmeister im EVRC, und mit Ernst Schlüter zwei „Gründungsväter“ des EVRC auf Schlüter-Velocipeden. Diese „Schnellfüßler“ wurden von den Gebrüdern Schlüter in Pinneberg gebaut. Dort hatte Wilhelm Johannes Max Schlüter 1864 eine Eisengießerei mit Fahrrad- und Nähmaschinenfabrikation eröffnet.2

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Veloziped aus der Fabrik der Gebrüder Schlüter. Auf der Plakette am Steuerkopf steht „Schlüter Pinneberg“. Aufnahme: Oliver Leibbrand,September 2007. Wer Interesse hat, kann sich dieses Frontkurbelveloziped in Elmshorn ansehen.http://www.industriemuseum-elmshorn.de

Neben den Velozipeden von Schlüter waren noch Konstruktionen aus Altona, Hadersleben, Berlin, Hamburg, Harburg, Dresden und Stuttgart vertreten. Und im ersten und dritten Rennen startete ein Joseph Brun aus Paris auf einer Konstruktion von Michaux. In den beiden ersten Rennen durfte der Vorderrad-Durchmesser nicht größer als 96 cm sein. Am 10. September 1869 um 15.15 Uhr starteten die Rennen auf dem Platz der Industrieaustellung. Nach hartem Kampf siegte der Kaufmann Otto Eckhardt aus Eimsbüttel, Mitglied des EVRC, in der ersten Konkurrenz auf einem Veloziped von Beinhauer, Hamburg.3 Als Preis durfte er sich einen Aussstellungsgegenstand im Wert von 16 Louisdor (französische Goldmünze mit dem Kopfbild König Ludwig XIII.) aussuchen. Es folgte das Entscheidungsrennen des zweiten Rennens, das der Fahrer Tornquist, ebenfalls Mitglied im EVRC gewann. Tornquist war für den erkrankten Kaufmann Hugo Beinhauer eingesprungen, der im zweiten Rennen mit seiner eigenen Konstruktion an den Start gehen wollte. Auf welcher Velozipeden-Konstruktion Tornquist zum Sieg „ritt“ ist nicht überliefert. Mit dem Altonaer Rechtsanwalt Gülich, dem Hamburger Kaufmann Gelübke und Wilhelm Schlüter, alle auf Schlüter-Velozipeden unterwegs (Vorderrad-Durchmesser 90cm, nur Gülich fuhr auf einer mit 89cm Durchmesser), war der gesamte Vorstand des EVRCs an diesem Rennen beteiligt. Viele Konstrukteure ließen es sich nicht nehmen, auf ihren eigenen „Sytem der Velocipedes", so steht es im überlieferten Programm, an den Start zu gehen. Darunter: Langer, Kaufmann, Berlin; Nielsen, Mechaniker, Hadersleben; Friedrichsen, Mechaniker, Altona; Tewes, Kaufmann, Harburg; Müller, Fabrikant, Berlin; Reinsch, Fabrikant, Dresden und Bauk, Mechaniker, Hamburg. Der Dritte im Bunde der Gebrüder Schlüter, August, startete im dritten Rennen, das als „Freie Concurrenz“, keine Vorgaben in puncto Raddurchmesser machte. Hier war auch der Hamburger Kaufmann C.E. Samuelson am Start. Er baute mit einem Durchmesser von 115cm die größten Frontkurbelvelozipede, die bei den Altonaer Rennen starteten. Vier Konstruktionen schickte Samuelson ins Rennen. Er war darüber hinaus erster Vorsitzender des St.GVC und somit Veranstalter der Rennen.

Die freie Konkurrenz gewann der Mechaniker Weinschenk aus Ribnitz vor Langer aus Berlin, der auf seiner eigenen Velozipede mit einen Vorderraddurchmesser von 92cm den zweiten Platz belegte. Welche Maschine Weinschenk fuhr, ist im Rennprogramm nicht angegeben. „Eine dichtgedrängte Zuschauermenge folgte mit Spannung dem Verlauf des Rennens und begrüßte den Sieger jedesmal mit lautem Applaus“, berichteten die Altonaer Nachrichten.4

Damit sich die Fahrer von den Anstrengungen zwischen den Rennen erholen konnten, wurde in den Pausen Kür-Reiten (Reiten über Hindernisse) angeboten. Dabei mussten die Velozipedisten „eine aus Holz gefertigte Anhöhe hinauf, dann hinunter, eine zweite hinauf, und von dieser wieder herunter“ fahren.5 Manche Fahrer lösten diese Aufgabe mit großer „Gewandtheit und Eleganz“, doch es gelang wohl nicht jedem dieses Kunststück zu meistern, was beim Publikum für Gelächter sorgte.6

Der Altonaer-Bicycle Club von 1869/80 erinnerte zum 25jährigen Vereinsjubiläum an das Velozipeden-Wettreiten in Altona: „Es wurden im Ganzen von den Clubmitgliedern 360 Mark gewonnen: das Geld floss in die Clubkasse, während die glücklichen Sieger ein kleines Geschenk als Andenken an den grossen Tag erhielten. Abends war dann großes Siegesfest im Sottdorf`schen Lokal.“ (Hier gründete sich der EVRC am 17. April 1869. Heute ist dort der U-Bahnhof Emilienstraße. Eine Informationstafel im gegenüberliegenden Weberspark erinnert an den Sottdorf`schen Salon) „Die Sieger wurden mit Lorbeeren geschmückt, allerlei gute Reden würzten das treffliche Festmahl, und damit auch die Damen zu ihrem Recht kamen, schloss ein grosser Ball den denkwürdigen Tag.“7

Bargum, den 14. September 2014

1Vgl. Illustrirte Zeitung Leipzig, Bd. 53, Nr. 1368,18.09.1869, S. 238, zitiert nach: Kielwein, Velozipedrennen und Clubs in Deutschland: Erste Ansätze um 1869. In: Knochenschüttler, Heft 35, 3 / 2005, S. 9.

2Alt-Pinneberg, S. 101. Telefax der Stadt Pinneberg vom 10.10.2007.

3Vgl. Altonaer Nachrichten, Nr. 213, 11. September 1869, Rubrik: Vaterstädtisches und Unterhaltendes, Seitenzahl unleserlich.

4Vgl. Altonaer Nachrichten, Nr. 213, 11. September 1869, Rubrik: Vaterstädtisches und Unterhaltendes, Seitenzahl unleserlich.

5Ebd.

6Ebd.

7Vgl. Die Entstehung und Entwicklung des Altonaer-Bicycle-Clubs 1869/1880, ABC 1894, S. 16.

Die Philosophie des Radfahrens (2013)

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Jesús Ilundáin-Agurruza/Michael W. Austin/Peter Reichenbach (Hrsg.), Die Philosophie des Radfahrens, o.O. [Hamburg]: mairisch Verl., 2013.

Von Lars Amenda

Der Titel „Die Philosophie des Rad Fahrens“ ist gewichtig und verspricht viel. Der radhistorische Interessierte wird vermutlich sofort an die erstmals 1900 erschienene „Philosophie des Fahrrads“ von Eduard Bertz denken. Der Titel von Bertz nach wie vor sehr lesenswerten Werkes wird allerdings kein einziges Mal in den neueren philosophischen Betrachtungen erwähnt, wie ich mit Verwunderung feststellen musste. Es handelt sich vielmehr um einen bunten Strauß philosophischer und zumeist sehr persönlicher Überlegungen mit Blick auf das Fahrrad, vor allem aus der Feder anglo-amerikanischer Philosophinnen und Philosophen. Der deutsche Titel ist deshalb auch etwas irreführend und recht marktschreierisch; der englische Titel „Cycling – Philosophy for Everyone: A Philosophical Tour de Force“ passt deutlich besser zu meinen Leseeindrücken.

Die fünfzehn Beiträge behandeln verschiedene Aspekte wie Erfahrungen einer Radtour (ohne dafür hinreichend trainiert zu sein), das Fahrrad als letzte „humane Technik“, Rad fahren in Island (ein gelungener Artikel von Robert H. Haraldsson), das kindliche Erlernen des Fahrradfahrens und eine geschlechtsspezifische Perspektive auf das Thema. Die Critical Mass darf natürlich auch nicht fehlen, es gibt einen kleinen Happen über Kopenhagen als Fahrradhochburg, die Erfahrung und Herausforderung von Radrennen, Doping, die Tour die France und Eddy Merckx. Eine sinnvolle Gliederung der sehr unterschiedlichen Beiträge gibt es nicht, auch eine längere einführende und einordnende Einleitung oder ein synthetisierendes Nachwort sucht man leider vergebens. So hat das Buch und die Auswahl der Artikel – nicht zuletzt durch die Ergänzungen für die deutsche Ausgabe – einen zusammengewürfelten, willkürlichen Charakter und kann mich angesichts des hochtrabenden Titels nicht überzeugen. Mir fehlen auch einige wichtige thematische Felder wie Radreisen, Langstreckenfahren, Bahnfahren, Fahrräder als neues Statussymbol, der Reiz der Jedermann-Rennen, Fahrräder und Mode und einiges mehr. Aber das ist auch der Fluch und Segen von Sammelbänden zugleich, dass sie oftmals sehr unterschiedliche Beiträge zwischen zwei Buchdeckeln vereinen müssen, die bis auf übergeordnetes Thema – in diesem Fall das Fahrrad – nicht sehr viel gemein haben. Das mag aber auch mit persönlichen Vorlieben zu tun haben. Ich habe das – zumindest sehr geschmackvoll gestaltete Buch – jedenfalls nach der Lektüre entäuscht zur Seite gelegt.  Aber es gibt ja noch die „Philosophie des Fahrrads“ von Eduard Bertz … 

Hamburg, den 9. September 2014

 

„Ohne halt – Kameradschaft voran.“ Ein verherrlichendes Autorennen-Würfelspiel aus der NS-Zeit

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Heute geht es um eine für diesen Ort recht ungewöhnliche Quelle. Mir ist kürzlich ein Würfelspiel aus den 1930er Jahren „zugeflogen“, das eine Art „Mensch ärgere Dich nicht!“ darstellt, nur mit Rennautos auf einer Rennstrecke. Es ist ein beredtes Dokument aus der Alltagskultur des Dritten Reiches und dokumentiert die Verherrlichung von Autorennen und Rennfahrern in jener Zeit. Das NS-Regime versprach den Deutschen die Massenmotorisierung, doch den „KdF-Wagen (KdF = „Kraft durch Freude“), den späteren Volkswagen oder „Käfer“, sollten nur sehr wenige selber lenken und erst seit den 1950er Jahren waren immer weitere Kreise in der Lage, sich einen PKW zu leisten. Die  NS-Propaganda befeuerte aber ganz gezielt den Wunsch nach einem eigenen Wagen. Eine zentrale Funktion nahmen diesbezüglich die erfolgreichen „Silberpfeile“ von Mercedes ein, die in den 1930er Jahren zahlreiche Rennen gewannen und deren Fahrer wie Bernd Rosemeyer und Rudolf Caracciola zu echten Popstars avancierten, gefeiert und bewundert von den Massen. Die deutschen Fahrer wurden als unerschrockene Haudegen inszeniert, die die unbändige Kraft der Motoren wagemutig einsetzten und kontrollierten. In den Spielregeln ist zu lesen: „Ihr habt alle die großen Autorennen in Erinnerung. Unsere berühmten deutschen Rennfahrer mit den schnellsten und besten Wagen der Welt bestritten stets erfolgreich die Rennen.“

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In dem Spiel „Ohne Halt“, das alleine oder im Team gespielt werden kann, existiert auf dem Brett ein kleiner Bereich, in dem Radfahrer ihr Gefährt in einer „Fahrrad-Wache“ abstellen, um dann an der Rennstrecke das Geschehen aus nächster Nähe zu betrachten.

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Symbolischer geht es wohl kaum. Die Radfahrer bewundern die motorisierte Technik, dieses Zukunftsversprechen, das in dem von den Nationalsozialisten geplanten kommenden Krieg dann in Form von Panzern und Kübelwagen (die dann anstatt der friedlichen „Käfer“ produziert wurden) bei der Eroberung riesiger Räume in Osteuropa eine wichtige Rolle spielen sollte. Es ist deshalb kein Zufall, dass in der NS-Propaganda die Motorisierung überhöht wurde. Im Vergleich zu den rasenden Silberpfeilen wirken Fahrräder ausgesprochen harmlos und friedlich.

Quelle: Ohne halt – Kameradschaft voran! Auto-Rennen für Einzelfahrer und Mannschaften, Mitte der 1930er Jahre; Literatur: Uwe Day, Silberpfeil und Hakenkreuz. Autorennsport im Nationalsozialismus, Berlin: be.bra wissenschaft verlag, 2005.

Hamburg, den 8. September / Lars Amenda

ABC-Fahrrad-/Bootstour 1920

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Dieses schöne Foto zeigt eine ABC-Ausfahrt im Jahr 1920. Bei recht ausgelassener Stimmung sticht die Gruppe “in See”, um vermutlich auf eine Elbinsel (Neßsand?) überzusetzen. Die Pflastersteine im Vordergrund deuten auf einen kleinen Anleger hin. Gekonnt ist die “Stapeltechnik” der 21 Räder, falls alle mit einem eigenen Gefährt unterwegs gewesen sein sollten. Gregers Nissen ist in der Mitte links zu erkennen, Pfeife rauchend und mit dem Habitus des “Oberhauptes”. Am und auf dem Bug tummelt sich die ABC-“Jugend”, darunter auch zwei Pärchen. Die Zeiten hatten sich im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert geändert - ein Jahr vor der Aufnahme der Fotografie wurde in Deutschland das allgemeine Wahlrecht für Frauen eingeführt - und auch beim ABC waren Frauen jetzt willkommen.

Quelle: Stadtteilarchiv Ottensen.

Hamburg, den 4. September 2014 / Lars A.

Wanderbuch "Mittel-Deutschland (inkl. Schleswig-Holstein)" 1908

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Gregers Nissen (Bearb.), Mittel-Deutschland (inkl. Schleswig-Holstein) (Wanderbuch des Deutschen Radfahrer-Bundes, Bd. 3), Essen: Deutscher Radfahrer-Bund, 1908.

Von Lars Amenda

In seiner Funktion als „Bundesfahrwart für Wanderfahrten“ gab Gregers Nissen den vorliegenden dritten Band des „Wander-Buches“ des Deutschen Radfahrer-Bundes heraus. Zuvor waren bereits die Ausgaben „Süd-Deutschland“ und „West-Deutschland“ erschienen, „Ost-Deutschland“ sollte als vierter Band folgen. Das Gebiet Mitteldeutschlands umfasst in der Interpretation des Radführers ungefähr das Gebiet der ehemaligen DDR, mit Touren nach Westen bis nach Hannover und nach Norden bis ins nördliche Schleswig-Holstein. Nissen begründet die Aufnahme des hohen Nordens wie folgt: „Schleswig-Holsteins Ost- und Westküste werden ungeheuer viel von Radwanderern aus Mittel-Deutschland, woher auch alle wichtigen Zufahrtsstrecken kommen, aufgesucht. Schleswig-Holstein wird daher im Bande ‚Mittel-Deutschland’ von grossem Wert sein.“ (Begleitwort)

Das Wander-Buch enthält 58 ausführliche beschriebene Touren, eine Übersichtskarte sowie Stadtpläne von Magdeburg, Chemnitz, Halle, Dresden, Leipzig (der in dem vorhandenen Exemplar leider fehlt) und Hamburg-Altona. Die Tourenvorschläge sind meist 100 bis 200 Kilometer lang und detailliert aufgelistet. Nissen weist auf herausragende Sehenswürdigkeiten hin, wie in der ersten Tour von Eisenach über Gotha, Erfurt, Weimar, Jena nach Leipzig auf die Wartburg bei Eisennach, „der schönsten aller deutschen Burgen, mit der ein gewaltiges Stück deutscher Kultur- und Volksentwicklung untrennbar verknüpft ist". (S. 1) (Vor wenigen Monaten fuhren wir im Zuge des Flèche Allemagne der Audax Randonneurs Allemagne im Team von Hamburg aus zur Wartburg, diesem symbolischen Ort deutscher Geschichte).

Die weiteren Touren berühren alle größeren Städte in der Region, führen nach Dresden, nach Magdeburg, nach Zwickau, nach Leipzig, in die Sächsische Schweiz, in den Harz, nach Berlin und nach Kiel und in die „Nordseebäder“. Von besonderem Interesse, zumindest für die Hamburg-Berlin-Fahrer, dürfte die Tour Nummer 51 „Berlin-Ludwigslust-Hamburg“ sein. Die Route ist insgesamt 283 Kilometer lang und startet  am Brandenburger Tor, geht über Nauen, Friesack, Kyritz, Perleberg nach Ludwigslust; über Pritzier, Vellahn, Boizenburg, Lauenburg erreicht man dann Hamburg.

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Das Wander-Buch schließt mit den Touren nach Schleswig-Holstein und dem heute etwas befremdlichen Vorschlag zur „Seehundsjagd“ auf Amrum („Im Innern der Insel und auf den weiten Sandbänken kann man sein Rad fleissig tummeln“). (S. 128) Am Ende folgt die Auflistung der Strecken, ein Index der Städte und Ortschaften und die Übersichtskarte.

Ein Exemplar von Gregers Nissens Wander-Buch über und durch Mitteldeutschland ist seit kurzem Bestandteil der ABC-Bibliothek.

Hamburg, den 18. August 2014

Das Buch der Radsporttrikots

Andreas Beune/Rainer Sprehe, Das Buch der Radsporttrikots, Bielefeld: Covadonga Verlag, 2014, 221 S., 24,90 EUR.

Von Lars Amenda und Lars Bärer

Radsporttrikots sind ohne Frage eine recht spezielle Bekleidung. Dem Sport eher abgeneigte Personen lästern in aller Regelmäßigkeit über die hautengen Leibchen von radelnden Jedermännern, die im Vergleich zu ihren professionellen Vorbildern bisweilen einen deutlich höheren Body Mass Index aufweisen. Radsportfans hingegen vergöttern die nicht selten quietschbunten Trikots ihrer Idole und bevorzugten Radsport-Teams, erinnern diese sie doch an vergangene Erfolge, bewegende Tragödien und unterhaltsame Anekdoten. Deshalb überrascht es eigentlich, dass bisher kein Buch über Radsporttrikots in deutscher Sprache publiziert worden ist (im Gegensatz zu klassischen Radsportländern wie Belgien und den Niederlanden).

Andreas Beune und Rainer Sprehe füllen diese Lücke nun mit dem kürzlich im Covadonga Verlag erschienen, vorliegenden Buch, das knapp 200 Exemplare dieses besonderen Kleidungsstückes – „das stets gleichzeitig Funktionswäsche und Proviantbeutel, mobile Litfasssäule und Erkennungszeichen von Freund und Feind zu sein hatte“ (S. 9) – in Farbe reproduziert und die jeweilige Geschichte dazu erzählt. Um es vorwegzunehmen: Die beiden Autoren haben ein sehr informatives und unterhaltsames Buch verfasst, das dem eigenen Anspruch einer Zeitreise gerecht wird und über den „Umweg“ von Radsporttrikots über die Geschichte und Gegenwart des Radsports informiert.

Die Auswahl der Trikots richtet sich nach verschiedenen Kriterien. Es handelt sich ausnahmslos um Trikots von mehr oder minder namhaften Radrennfahrern, einigen Exemplaren sind die Spuren des Wettkampfes deutlich anzusehen, andere sind mit Unterschriften der Fahrer, dieser Trophäe des Sammlers geschmückt. Viele Trikots stehen repräsentativ für eine zeittypische Entwicklung, sei es in Bezug auf den Schnitt und den Stoff, das Design oder die jeweiligen Werbeschriftzüge. 

Am Anfang erinnert die Einleitung („Mehr als ein Stück Stoff“) an die Eigenheiten und Anforderungen des Radtrikots. Der enge Schnitt, die Taschen (die um 1900 vorne lagen und dann nach dem Zweiten Weltkrieg nach hinten wanderten) und die bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzende Werbung auf den Trikots (vor allem für Fahrrad- und Reifenhersteller) machten die Leibchen zu Sportkleidung, Symbolen und Marketinginstrumenten in einem. Die im Folgenden chronologisch sortierten Trikots veranschaulichen sehr eindrucksvoll die Entwicklung und Kommerzialisierung des Radsports im 20. Jahrhundert. Löblicherweise finden sich auch frühe Trikots – wie das von Thaddäus Robl 1908 errungene schwarz-weiß-rote, mit Reichsdadler versehene Trikot des Deutschen Meisters im Steherrennen der Profis (S. 36). Für unseren Geschmack hätten es durchaus noch mehr frühe Exemplare sein können, aber das mag an persönlichen Vorlieben liegen. Die überwiegende Mehrzahl stammt aus der Nachkriegszeit, wie die beiden ikonischen Trikots von Fausto Coppi (Bianchi) und Gino Bartali (Bartali – Usus). Doch nicht nur namhafte Fahrer finden sich, auch vergleichsweise unbekannte Radsportler sind mit ihren Trikots vertreten, weshalb selbst profunde Kenner der Radsportgeschichte einige neue Erkenntnisse gewinnen dürften. Dies geschieht allerdings zum Preis, dass das Buch einige bekannte Radrennfahrer auslassen muss. Bei „den ganz Großen“ wünschte man sich manchmal auch, die verschiedenen, im Text zumeist erwähnten abwechselnden Trikots im Laufe der Zeit nebeneinander auf einen Blick sehen zu können, doch einen Vollständigkeitsanspruch kann und will das Buch gar nicht einlösen. Die Größe der abgedruckten Trikots variiert, einige der sehr klein wiedergegebenen Stücke hätten durch mehr Platz einnehmen können, wie wir finden.

Bestimmte Trikots ragen aus der Zusammenstellung geradezu heraus. Das trifft auf das bekannte schwarz-weiße Peugeot-Trikot zu, das mehrfach abgebildet ist (u.a. eines von Tom Simpson aus dem Jahr 1967, S. 86). Sein markantes Schachbrettmuster hatte es der Übertragung im Schwarzweiß-Fernsehen zu verdanken, da es dort besonders leicht erkennbar war. Auch das Molteni-Trikot von Eddy Merckx aus dem Jahr 1972 ist wegen der großen Erfolge seines Trägers besonderts populär (S. 106). Einen hohen Stellenwert nimmt selbstverständlich das Gelbe Trikot der Tour de France ein, das in diversen Ausgaben aus unterschiedlichen Zeiten abgebildet ist (u.a. eins von Dietrich Thurau, 1977, und Jan Ullrich, 1997). Der erste Radrennfahrer bei der Tour de France im Gelben Trikot war vermutlich Eugène Christophe am 18. Juli 1899 (S. 60). Danach entwickelte es sich einem der „bekanntesten und prestigeträchtigsten Symbole im modernen Leistungssport“ (S. 58), wie Beune und Sprehe zu Recht anmerken.  

Die Chronologie der Trikots dokumentiert, wie die Werbung immer mehr Raum einnahm, bis sie in den 1990er Jahren dann flächendeckend und mit der Abbildung der jeweiligen Produkte der Teamsponsoren beim besten Willen nicht mehr übersehen werden konnte (wie das extrovertierte Mapei-Clas-Trikot mit seinen bunten Würfeln aus dem Jahr 1994, S. 180). Im krassen Kontrast stehen dazu die schlichten Landesmeistertrikots, die ebenfalls reichlich vertreten sind. 

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass das Buch der Radsporttrikots sehr gelungen ist und die Geschichte des Radsports über die manchmal mehr, manchmal weniger schönen Trikots erzählt. Trotz der fundierten Recherche ist es kein wissenschaftliches Buch geworden, was den Leserkreis verbreitern dürfte. Gelegentlich finden sich zwar einige inhaltliche Wiederholungen und Überschneidungen, was an der Struktur des Buches liegt, das jeweilige Trikot in den Mittelpunkt zu stellen und die Geschichte und Geschichten „drumherum“, die Biographien der Fahrer und der Teams, zu platzieren. Das Buch dürfte bei Radsportsfans und an der Geschichte des Radsports Interessierten jedenfalls großen Anklang finden; zum einen, weil die Trikot mittels der knappen Erläuterungen „zum sprechen“ gebracht werden; zum anderen, weil man es immer wieder in die Hand nehmen möchte, um darin zu blättern und zu schmökern und auf eine radsportliche Zeitreise gehen kann. 

Hamburg, den 12. August 2014

Die Fernfahrt Berlin-Hamburg 1889

Von Oliver Leibbrand

Der News-Blog des Altonaer Bicycle-Clubs (ABC) kündigt es bereits an: Am 11. Oktober 2014 ist es wieder so weit: Der Audax Club Schleswig-Holstein veranstaltet das “Zeitfahren Hamburg-Berlin”, das für viele Radsportler in und um Hamburg sozusagen den Saisonabschluss markiert.

Zum ersten Mal, allerdings in entgegengesetzter Richtung, wurde die Fernfahrt 1889 ausgetragen. Anlass war das dreitägige Bundesfest des Deutschen Radfahrer-Bundes (DRB) in Hamburg vom 17. bis 19. August. Zum Rahmenprogramm gehörte Kunst-Saalfahren, eine Corsofahrt, die nationalen sowie internationalen Wettkämpfe auf der Grindelbergbahn und die Fernfahrt Berlin-Hamburg über 290 km. Thomas Henry Sumpter Walker, bekannt als T.H.S.Walker, ein englischer Radrennfahrer, Radsportfunktionär und Journalist organisierte diese erste Distanzfahrt.1

Und auch vor 125 Jahren kämpften die Radsportler gegen das Wetter bzw. Unwetter auf der Strecke, ähnlich wie 2013. 1889 war es „eine Unwetterfahrt ersten Ranges und nur neun Fahrer trotzten Wind und Wetter und erreichten Hamburg in der vorgeschriebenen Zeit von 28 Stunden“. (Erich Witt, in: Ein Jahrhundert Sport in Hamburg, ca.1933, Radfahrsport). 38 Teilnehmer gingen an den Start: 19 auf Hochrädern, 11 auf sogennanten „Sicherheitszweirädern“ (also auf Fahrrädern in der Form wie wir sie heute kennen), sechs auf Dreirädern und zwei bzw. vier fuhren auf Tandem. Zu diesem Zeitpunkt war der größte Teil dieser Fahrmaschinen höchstwahrscheinlich noch nicht mit Luftreifen ausgestattet. Leider ist nicht überliefert, wer auf welchem Fahrrad oder auf welcher Marke ins Ziel gekommen ist. Zeichnete sich der Vorteil der schnellen kettengetriebenen Sicherheitsniederräder gegenüber den nicht gerade ungefährlichen Hochrädern ab? Wie lange gab es diese Fernfahrt? Es ist nicht bekannt und weitere Quellen müssen gefunden und ausgewertet werden. Überliefert ist, dass der Sieger, Johannes Pundt, eine „Glanzleistung vollbrachte“ und für die Strecke Berlin-Hamburg 22 Stunden und 53 Minuten benötigte (Vgl. Witt, ebenda). Vier Jahre später, 1893, war der Radrennfahrer Pundt, Mitinitiator des Distanzrennens Wien-Berlin, einem der bedeutensten deutschen und östereichischen Straßenrennen, was in beiden Ländern einen Radfahrboom auslöste.

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Bild: Johannes Pundt, Bildmitte, beim Start zum Hochradrennen am 6. September 1886 in Berlin. Johannes Pundt war einer der ersten deutschen Radsportler. Er fuhr sehr erfolgreich Hochrad-, Niederrad-, Dreirad- und später auch Motorradrennen. Darüber hinaus war er Mitglied im Berliner Bicycle-Club „Germania“ und wurde nach seiner Karriere als Radsportler kaufmännischer Direktor bei den Brennabor-Werken in Berlin. Vgl.: Wolfgang Gronen/Walter Lemke: Geschichte des Fahrrads und des Radsports, Eupen 1978, S. 77; Johannes Pundt auf cycling4fans.de: http://www.cycling4fans.de/index.php?id=2270 und http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Pundt.

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Bild: Johannes Pundt, hier versehentlich als Johann, im Trikot seines Vereins. http://www.cycling4fans.de/index.php?id=2270

Heutzutage sind wir auf unseren hochgetrimmten Fahrrädern und asphaltierten Straßen wesentlich schneller zwischen Hamburg und Berlin unterwegs, als vor 125 Jahren. Schon jetzt wünscht der ABC allen Teilnehmern auf dieser Strecke für 2014 alles Gute und viel Sonnenschein. Wir sehen uns!

Bargum, den 9. August 2014

1 T.H.S.Walker gilt als Wegbereiter für den deutschen Radsport, verteidigte den Amateurstatus, gab seit 1881 die erste deutsche Radsportzeitschrift „Das Velociped“ heraus, gründete den Berliner Bicycle-Club und einen Verein für Velociped Wettfahrten, der in Berlin die erste Radrennbahn baute und unterhielt. Als Publizist und Autor setzte er sich auch für die Rechte der Radfahrer im Verkehr ein und unterstützte Vereins- und Verbandsgründungen. 1884 wurde seine Zeitschrift unter dem Titel „Der Radfahrer“ zum offiziellen Organ des DRB.

Das Fahrrad – Behandlung, Reparatur, Hilfsmotor

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Das Fahrrad – Behandlung, Reparatur, Hilfsmotor von Paul Reibestahl, 1. Auflage 1929, Nachdruck Altes Wissen, Johann Kleine Vennekate Verlag, Lemgo 2014.

Von Oliver Leibbrand

„Den Radsport zu fördern, dem Radler zu helfen und ihm Ratschläge zu geben, wie ein Rad zu behandeln und zu reparieren ist, soll der Zweck des Buches sein“, schreibt Paul Reibestahl im Vorwort 1929. 85 Jahre später ist es schön und nützlich dieses „Alte Wissen“ neu aufzulegen, wendet es sich doch vor allem an den Liebhaber historischer Fahrräder, der an seinen „Schätzen“ schraubt, sie liebevoll restauriert und pflegt.

Gut lesbar, leitet Reibestahl mit der geschichtlichen Entwicklung des Fahrrades ein, um dann seine technischen Exkurse, seine Tipps zur Pflege und Reparatur bis hin zum Einbau eines Fahrradhilfsmotors zu beschreiben. Doch zunächst will er hier mal ein wenig „Klarheit schaffen“, denn „bekanntlich“ gibt es viel zu wenig Material, „das objektiv die geschichtliche Entwicklung des Fahrrades schildert“ (S. 9). Da die ersten 50 Seiten nicht nur im Hinblick auf die historische Entwicklung spannend sind, sondern auch den Stellenwert des Fahrrades (Das Fahrrad im Dienste der Menschen S. 36 ff.), das Tourenfahren und Tipps für Frauen (Die Dame und das Fahrrad), behandeln, gehe ich darauf etwas intensiver ein als auf den technischen Teil.

Bei seinen Nachforschungen zur Frühgeschichte des Fahrrades findet Reibstahl nicht nur Hinweise auf den badischen Oberforstmeister Karl Freiherr von Drais, sondern auch einen Artikel aus einer Gelehrten Zeitung über die angebliche Erfindung eines Laufrades1 von Philipp Ignatz Trexler von 1784. Er liest über den Mönch Berthold Schwarz, dem Erfinder des Schießpulvers, dem ebenfalls die Erfindung des Fahrrades zugeschrieben wird und zitiert aus der Zeitschrift Illustrierter Radrenn-Sport von 1926, dass die Chinesen schon 2.300 v. Christus ein Gefährt, dem sie den Namen „glücklicher Drache“ gaben erfanden, was dem Fahrrad „aufs Haar geglichen“ habe (S. 17). Auf seine Anfrage beim Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, wird versichert, dass dort keine trexler`sche Laufmaschine bekannt sei und man nur im Besitz einer unbekannter Herkunft und einer drais´scher Bauart ist. Da Reibestahl keine Belege über andere existierende Laufmaschinen findet, ist es für ihn zwar nicht ausgeschlossen, dass andere an der Erfindung mitwirkten, doch alles in allem, so sein Fazit, „kann man Drais als den Erfinder der Laufmaschinen bezeichnen“ (S. 17.)

Hier wird vor allem deutlich, dass es viele gab, die meist aus patriotischen Motiven für sich die Erfindung des Fahrrades beanspruchten und es für Reibestahl noch 1929 nicht einfach war, diese Frage zweifelsfrei zu beantworten. So gibt es zahlreiche Legenden, die einen britischen, französischen, amerikanischen oder deutschen Weg beschreiben. Deshalb ist die Frühgeschichte des Zweirades sehr fehlerhaft. Das spiegelt sich auch bei Reibestahl wider, der den Tretkurbelantrieb und somit das Tretkurbel-Fahrrad für eine deutsche Erfindung von Philipp Moritz Fischer hält und diese auf 1852 datiert (S. 22). Seriös belegt ist bis heute, dass die eigentliche Innovation des Frontantriebes im U.S.-Patent von 1866 für Pierre Lallement steht. (Vgl.: Begleitwort von Hans-Erhard Lessing, in: Erste deutsche illustrirte Velocipede Brochüre von Hippolyt de Wesez, Wien 1869, Nachdruck Hannover 1995, S. 4). Umstritten ist nach wie vor die Beteiligung an der Entwicklung des Tretkurbelantriebes von Pierre Michaux2, der seine Frontkurbelvelocipede erstmalig bei der Weltausstellung in Paris 1867 zeigte und damit großes Aufsehen erregte. Ins Reich der “Prioritätsmärchen” muss auch der von Reibestahl erwähnte Oberbergrat Professor Joseph v. Baader, der angeblich schon 1820 Tretkurbeln an eine Drais`sche Laufmaschine schraubte (S.27) verwiesen werden. 3 Vom Instrumentenmacher Philipp Moritz Fischer ist belegt, dass er 1869 ein Frontkurbelveloziped nach Pariser Vorbild in Schweinfurt baute. Dieses wurde nach seinem Tod vom hiesigen Gemeindsekretär im Jahre 1891 in einem Leserbrief auf 1853 vordatiert (ebenda H.-E. Lessing, S. 6). Noch 1926 beanspruchte man in Hamburg-Harburg den eigentlichen ersten Erbauer des Fahrrades in dem Maschinisten Friedrich Just, was Reibestahl wahrscheinlich nicht wusste oder bewusst aussparte, da es, wie sich später herausstellte, ebenfalls nicht stimmte (ebenda H.-E. Lessing S. 6 und Rüdiger Articus, in: Das Fahrrad - Eine Erfindung aus Harburg?, in: Harburger Jahrbuch 1993, Band 18. ).

Nachdem die Entwicklung vom Hochrad zum Sicherheitsniederrad und vor allem die wichtige Erfindung des Luftreifens den Durchbruch des Fahrrades möglich machte, folgt im zweiten Teil des Buches der vielversprechende Abschnitt: „Das Fahrrad im Dienste der Menschen“. Auffallend ist der hohe Stellenwert, den das Fahrrad bei Reibestahl einnimmt. Denn für viele, vor allem „Millionen von Arbeitern“ ist das Fahrrad ein unersätzliches Verkehrmittel. Man spart nicht nur das Fahrgeld und pendelt problemslos zwischen Heim und Arbeiststätte, auch am Wochenende liegen die Vorzüge auf der Hand, indem man in die Natur hinausradelt (S. 36 ff.) Auf dem flachen Land und in den Großstädten sei es nahezu unentbehrlich, attestiert Reibestahl. Kleinbetriebe nutzen es als Transportmittel. Für Briefträger, Polizisten, Patrouillen der Reichswehr, Pfarrer und und und, ist es das Fortbewegungsmittel schlechthin; beliebt sei auch der Sport auf Bahn und Straße. Er empfiehlt das gesunde Tourenfahren als Ausgleich zum harten Arbeitsalltag. Sechstagerennen werden stark kritisiert und als „Auswüchse“ des Rennsports bezeichnet, denn nur durch „wahren Sport“ und „vernünftiges“ Fahren „wird der Körper widerstandsfähig und kräftig“ ( S. 40). In puncto Ernährung rät Reibestahl bei Tourenfahrten dringend auf Alkohol zu verzichten und während der Fahrt das Rauchen einzustellen. Sehr amüsant seine allgemeine Empfehlung: „Iß, was dir schmeckt und bekommt und so, wie du es gewohnt bist“.

Überraschend ist dann der knapp dreiseitige Einwurf Hedwig Reibestahls, höchstwahrscheinlich die Frau des Autors, die sich fragt: “Ist das Radfahren für uns Frauen gesundheitsschädlich?“. Sie gibt allerlei Tipps, was zu beachten ist, und rät ebenso ein Übermaß an Verausgabung zu vermeiden. Gerade als Ausgleich zur Bürotätigkeit seien Radpartien erholsam. Sie beugen Krankheiten vor, können auch während der monatlichen Beschwerden und bis zu den letzten beiden Schwangerschaftsmonaten völlig bedenkenlos gefahren werden. Auch modische Ratschläge dürfen da nicht fehlen: „Ob man beim Tourenfahren mit Pumphosen, Breeches (urspüngliche Form der Kniebundhose), geteiltem oder kurzen Rock fährt, sei der Individualität überlassen; hier soll vor allen Dingen die Figur mitsprechen“, rät Hedwig Reibestahl.

Im Achten Abschnitt des Buches werden die verschiedenen Fahrradkonstruktionen mit Abbildungen vorgestellt, wobei Reibestahl Sonderkonstruktionen bewusst ausspart. Mit Ratschlägen zum „richtigen“ in den Sattel niederlassen, Fahren, Bremsen, den Gebrauch der Luftpumpe, spart er nicht. Sehr interessant sind die verschiedenen Arten von Fahrradbeleuchtungen, Öl- und Petroleumlaternen, Karbidlampen und batterie- sowie dynamobetriebene Beleuchtungen, deren Vorzüge der Autor diskutiert. Sehr viele und gute Abbildungen gibt es im Abschnitt zur Bereifung (S. 86 ff) und den verschiedenen Freilaufnabenmodellen (S. 133ff). Letztere werden sehr detailliert mit Querschnittszeichnungen erklärt, sodass der Laie Demontage und Montage selbstständig durchführen kann. Gut verständlich sind auch die Ausführungen zu Rahmen, Bremsen, Räder und Kette. Im letzten Teil des Buches behandelt Reibestahl die Einbaumöglichkeiten eines Hilfsmotors, weil es dadurch kostengünstig für viele Radler möglich ist, die „Annehmlichkeiten eines Motorrades“ zu genießen (S. 203ff). Denn, so unterstellt er: „die Sehnsucht vieler Radler geht wohl dahin, statt des Fahrrades ein Motorrad zu besitzen“. Doch ein paar Seiten weiter heißt es, dass Interesse der Radler an Hilfsmotoren sei unerklärlicher Weise sehr gering (S. 210). So wirbt Reibestahl mit seinen Einbauhilfen für die Hilfsmotoren und beschreibt deren Vorzüge sowie Einbautechnik. Ganz konkret macht er das auf den letzten Seiten für den Ruppe-Fahrrad-Motor und das Öwa-Aggregat, von denen er überzeugt ist.

Reibestahls Werk, das unter dem Eindruck der einsetzenden Weltwirtschaftskrise entstand, gibt eine sehr gute Übersicht zu technischen Details sowie Reparaturen am Fahrrad der 1920er Jahre. Darüber hinaus gibt es auf den ersten Seiten einen kleinen Exkurs zur Fahrradgeschichte und -kultur. Um die fortschreitende Legendenbildung in der Frühgeschichte des Fahrrades zu vermeiden, wäre es sinnvoll gewesen, auf die mittlerweile durch die Fahrradgeschichtsforschung widerlegten Irrtümer hinzuweisen und diese im Vor- oder Nachwort zu kommentieren. Besonders lesenswert macht das Buch seine klare gut, verständliche Sprache, die kontextbezogene reichhaltige Bebilderung (insgesamt 141 Abbildungen) und viel technisches Wissen.

Das Buch „Das Fahrrad – Behandlung, Reparatur, Hilfsmotor“ ist im Taschenbuchformat im Johann-Kleine-Vennekate-Verlag erschienen und dort noch bis zum 21.08.2014 zum Subskriptionspreis von 20 Euro erhältlich.

Bargum / NF, den 03.08.2014

1Die Bezeichnung Laufrad ist für das Zweirad missverständlich, denn dabei handelte es sich damals um eine Trettrommel für Fußarbeiter zum Betreiben von Maschinen. Da heute auch die einzelnen Räder so bezeichnet werden, hat sich der Begriff Laufmaschine für die drais`sche Ära etabliert.

2Reibestahl verwechselt Vater und Sohn, denn Pierre war der Vater und Ernest Michaux der Sohn.

3Das gleiche gilt für die britische Behauptung 1838 habe Kirkpatrick Macmillan ein zweirädriges Velozioped mit Fußhebelantrieb des Hinterrades gebaut.

Hamburger Radsportgeschichte: Die Grindelbergbahn 1885-1906

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Anzeige des Rennvereins Hamburg-Altonaer Radfahrer von 1890

Von Oliver Leibbrand

Sehr hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die Wiege des frühen Bahnradsports in Berlin, Köln oder München steht. Doch auch in Hamburg entstand in den 1890er Jahren eine für die damaligen Verhältnisse glamouröse Radsportszene. Radsport und insbesondere der Bahnradsport avancierte zum Sport Nummer eins. Täglich berichteten die Zeitungen über Großveranstaltungen, die draufgängerischen Bahnradfahrer, neueste Enwicklungen, Rennergebnisse und Hintergründe, vergleichbar mit der heutigen Berichterstattung rund um die Frankreich-Rundfahrt.

Maßgeblichen Einfluss auf die rasante Entwicklung des Bahnradsports hatten die Radsportvereine. In Hamburg wurde der Rennverein Hamburg-Altonaer Radfahrer gegründet und der Bau einer Radrennbahn sowie die Ausrichtung von Radrennen beschlossen. Es beteiligten sich der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 (ABC), der Hamburger Bicycle-Club (1882) und der Cyclisten-Club Hammonia von 1883. Am 26. Juli 1885 wurde die Grindelberg-Radrennbahn auf der Schlankreye, nach knapp viermonatiger Bauzeit, eröffnet. Die Anlage lag zwischen Grindelberg und Schlankreye, damals noch eine größere städtische Wiesen- und Weidefläche.

Auf 1.000 Sitz- sowie 20.000 Stehplätzen konnten die Zuschauer die spannenden und spektakulären Rennen auf der 500 m langen Zementbahn verfolgen. Es gab eine überdachte Tribüne und nach dem Vorbild der Pferdesportveranstaltungen wurden Frühjahrs-, Sommer- und Herbsttreffen abgehalten. Neben Regatten und Pferderennen wurden die Wettkämpfe auf der Radrennbahn zu traditionellen sportlichen Großereignissen in Hamburg.

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Post- bzw. Grußkarte von der Grindelbergbahn 1904

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Lage der Grindelbergbahn um 1895

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Vor dem Start des Vier-Tagerennens auf der Grindelbergbahn am 2. September 1899

Auf Hoch- und Dreirädern starteten die Fahrer 1889 im Rahmen des VI. Bundestag des Deutschen Radfahrerbundes (DRB). Die Begeisterung und die Anziehungskraft der Rennen war enorm. Das Hamburger Fremdenblatt berichtete von einer „wahren Völkerwanderung“ zum Rennplatz und „kollosalen Besuch“ aller „Schichten der Bevölkerung“, die sich für die Rennen begeisterten. (Zweite Beilage des Hamburger Fremdenblatt, Nr. 193, 19.08.1889) Noch schneller und spektakulärer wurden die Rennen auf Niederrädern und hinter Schrittmachermaschinen. Ein Teil der Zuschauerplätze wurde 1890 durch ein Feuer vernichtet. Doch das beeinträchtigte die lukrativen Veranstaltungen in den folgenden Jahren nicht. Der Sport auf der Bahn boomte, war Zuschauermagnet und eignete sich hervorrragend zur Vermarktung. Konkurrierende Radrennbahnen entstanden 1892 in Hamburg/Eilbeck und vor den Toren Hamburgs, 1894, in Bergedorf.1

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Anzeige des Sportvereins zu Hamburg 1896

Diese von kommerziellen Interessen geleitete Entwicklung widersprach dem Grundsatz des Rennvereins Hamburg-Altonaer Radfahrer. Denn als Mitglied des DRB hatte man sich seit 1884 zum Amateurprinzip, dem sogenannten „Herrenfahrertum“, bekannt, das vorsah, nicht um Geldpreise zu fahren. Der ABC trat konsequenterweise schon im September 1893, wegen „Spannungen mit den Hamburgern“, aus dem Rennverein Hamburg-Altonaer Radfahrer aus. (Protokoll Generalversammlung des Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, 21. September 1893) Zum Eklat kam es auch, weil der ABC eine geplante Kurvenerhöhung, eine Maßnahme die weit verbreitet war um die Rennen auch auf der Grindelbergbahn noch schneller, gefährlicher und spektakulärer zu gestalten, ablehnte. Schwere, manchmal sogar tödliche Unfälle, ereigneten sich auf den Radrennbahnen des Deutschen Reiches. Diese Gesundheitsgefahren und die profitorientierte Vermarktung lehnten die ABCer ab. Akzente wurden zukünftig hauptsächlich in den Disziplinen Wander- und Kunstradfahren sowie Radball gesetzt.2

1897 erfolgte ein weiterer Umbau der Grindelbergbahn bei dem die Kurven aus Holz hergestellt wurden. Im gleichen Jahr siegte Willy Arend beim ersten „Großen Preis von Hamburg“. Um die Jahrunderwende kamen dann die Rennen hinter Motorschrittmachern in Mode. Bei den Frühjahresrennen 1900 wurden neben Niederradrennen mit und ohne Vorgabe, Motordreiradrennen und ein 50 Kilometer-Dauerfahren, das hieß 100 Runden mit Motorführung, auf der Grindelbergbahn ausgefahren. Auf die rückläufige Begeisterung reagierte der Betreiber, seit 1904 der private Unternehmer Martin Meyer mit seiner Sportplatz Grindelberg GmbH, und bot zukünftig werbewirksame Fahrradverlosungen, Indianershows und Ballon-Fahrten an. Darüber hinaus wurde im Innenraum Fußball und Tennis gespielt und im Winter Eislaufen angeboten. Doch auch diese Ausweitung konnte den Konkurs der Sportplatz Grindelberg GmbH nicht verhindern.

Neben anderen Sportarten, in erster Linie die „Fußlümmelei“ oder die aus den Vereinigten Staaten importierten Sechstagerennen, wuchs bei vielen Radsportlern und Radsportbegeisterten die Faszination für Straßen- und Distanzrennen. Nachdem sich seit der Jahrhundertwende das Fahrrad immer mehr als Massenverkehrmittel durchsetzte und sich alle eines leisten konnten, ging auch ein Stück der Anziehungskraft des Radsports verloren. Stark mit dem Radsport verknüpfte gewerbliche Interessen und ein grundlegend anderes Sportverständnis, führten vor allem in der Arbeiterschaft dazu, sich von den industriegesellschaftlichen Vorstellungen von Leistung, Spannung und Geschwindigkeit, wie sie der Radrennsport verkörperte, zu distanzieren. Zulauf bekamen vor allem die Arbeiterradfahrer-Vereine, die sich der Radtouristik und dem Saalsport (Reigen- Kunstradfahren und Radball) verschrieben. Die Mitgliederzahlen stiegen rasant an und überflügelten bald die bürgerlichen Vereine.

Die Grindelbergbahn wurde 1905 geschlossen und aufgrund der Erweiterung des Wohngebietes und der Anlage der Straße Kaiser-Friedrich-Ufer 1906 abgerissen. Schon seit 1899 konkurrierte die Grindelbergbahn mit dem Velodrom am Rothenbaum, der größten Sport- und Ausstellungshalle im damaligen Deutschen Reich. Auf einem Gelände von 30.000 m² gab es hier eine 13.000 m² große Winterhalle mit einer 333 Meter langen Zementrennbahn, Radfahrübungsbahnen, einen Reigensaal, einen Fahrradverleih, Reparaturwerkstätten und einen gastronomischen Betrieb, was kaum Wünsche offen ließ. Doch der exklusive Rahmen, hohe Eintrittpreise und sogar ein generelles Verbot an sozialdemokratische Vereine, z.B. Radsportvereine der Arbeitersportbewegung, zu vermieten, unterstichen den elitären Charakter des Velodroms und seiner Betreiber. Trotz Springreiten, Leichtathletik und Automobilshows, war auch das Velodrom nicht rentabel. Aufgrund der geringen Besucherzahlen und anderweitiger Baupläne wurde der Pachtvertrag von der Stadt Hamburg nur bis 1910 verlängert. 1912 wurde auch das Velodrom, auf dessen Geschichte wir hier demnächst noch einmal gesondert eingehen, abgerissen.

Bargum/ NF, den 19. Juli 2014

1Die Eilbecker Bahn stand an der Friedrichsbergerstraße Ecke Eilbecker Weg. Sie hatte eine 400m lange Holzbahn und bot ca. 20.000 Zuschauern Platz. Über die Bergedorfer Bahn ist bekannt, dass sie eine 166m lange Holzbahn hatte.

2Der ABC unterstrich sein Engagement für den „Gentlemen-Sport“ noch, als 1895 im DRB die Trennung von Profi- und Herrenfahrern eingeführt wurde und er daraufhin vorrübergehend auch aus dem DRB austrat.

Ost-Holstein. Touristenführer durch das östliche Holstein (1906)

Ost-Holstein. Touristenführer durch das östliche Holstein, das Fürstentum Lübeck, Herzogtum Lauenburg und die Städte Lübeck und Kiel. Mit 5 Karten und 1 Stadtplan. Angaben und Ratschläge für Radfahrer von Gregers Nissen, 16. Aufl., Hamburg: Conrad H. A. Kloss, 1906 (Richters Reiseführer).

Von Lars Amenda

„Immer voller ergiesst sich allsommerlich der Touristenstrom durch das östliche Holstein. Der anmutige Wechsel von Berg und Tal, von Wald und Wasser, prächtige Buchenwaldungen, welche sich in blauen Seen und belebten Förden widerspiegeln, Städte voll historischer Erinnerungen mit reichen Kunstschätzen, ein Zentralhafen unserer Marine, stille Sommerfrischen und heilkräftige Seebäder – das sind die starken Magnete, die alljährlich neue Besucher heranziehen und die alten Freunde nicht müde werden lassen, wieder und wieder hierher zurückzukehren.“ (S. 10)

Das östliche Holstein geizt wahrlich nicht mit Reizen und ist deshalb auch heute noch ein sehr beliebtes Ziel für Erholungssuchende. Der vorliegende Band aus der Reihe „Richters Reiseführer“ war um die Jahrhundertwende außerordentlich populär und erreichte 1906 bereits die 16. Auflage. Der Führer ist an dieser Stelle von besonderem Interesse, weil Gregers Nissen die Hinweise und Tipps für Radfahrer beisteuerte. Sein Anteil an dem Gesamttext ist zwar recht gering, verweist aber auf die wachsende Bedeutung des Radwanderns um 1900. Nissen schlägt eine zweitägige, von Lübeck ausgehende Reise vor, die über Travemünde, Niendorf, Scharbeutz, Eutin und Uklei am ersten Tag nach Plön führt. (S. 23f) Am zweiten Tag geht es von dort über Lütjenburg, Hohwacht, Panker, Hessenstein, Schönberg nach Laboe und von dort per Dampfer nach Kiel. [Einige Teilabschnitte fuhren zwei ABCer jüngst auf dem 600km-Brevet von Hamburg aus]. Nissen nennt als Alternative zum Bungsberg Hessenstein: „Die Aussicht von hier ist so frei und umfassend, dass man sich den etwas höhern Bungsberg schenken kann; zumal die Bungsbergroute nur für geübte Terrainfahrer ausführbar ist.“ (S. 23)

Im Folgenden finden sich knappe Hinweise für Radfahrer, die in die vorgeschlagenen Routen integriert sind. Über die „Buchenwaldung Holm“, südlich des Diek-Sees bei Malente gelegen, heißt es beispielsweise: „Radfahrern gewährt eine Fahrt durch den Holm grosse Befriedigung.“ (S. 67)  An der Ostsee warteten einige Widrigkeiten auf Radfahrer: „Radfahrer fahren besser [von Neustadt] über Süseler Baum, Süsel nach Haffkrug 13,7 km. Weiterhin nach Scharbeutz sehr sandig; dort gehe man rechts hinauf in das schöne Kammerholz; guter Fussweg. (Ausblicke auf die See). Beim Austritt aus dem Walde wird der Weg wieder fahrbar. Durch gute Radfahrwege ist der Strand mit der Eutin-Lübeckerchaussee verbunden, so dass man nicht über Travemünde nach Lübeck zu fahren nötig hat,“ (S. 96) In Lübeck herrschte seinerzeit „Nummernzwang“ – „Einheimische passieren unbehelligt“. (S. 104) [Eine solche, in „Diskussionsforen“ und Kommentarspalten im Internet immer wieder gern von Autofahrern erhobene Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht von Radfahrern hat sich also historisch nicht durchgesetzt und kann damit getrost ad acta gelegt werden …]

Der Führer enthält neben den Hinweisen für Radfahrer eine große, ja geradezu überbordende Fülle von aktuellen Informationen, Reisetipps, Empfehlungen von Hotels und Restaurants, geschichtliche Hintergründe und ausgesprochen schönes Kartenmaterial. Das hier kurz vorgestellte Exemplar befindet sich im Übrigen in der ABC-Bibliothek, falls jemand neugierig geworden sein sollte …

Hamburg, den 13. Juli 2014 / Lars

Heinrich Horstmann: Meine Radreise um die Erde (1895-1897)

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Heinrich Horstmann, Meine Radreise um die Erde vom 2. Mai 1895 bis 16. August 1897, hrsg. und komment. von Hans-Erhard Lessing, Leipzig: Maxime / Verlag Maxi Kutschera, 62007 (Erstaufl. 2000).

Von Lars Amenda

Heinrich Horstmann hatte großen Durst – Tatendurst und auch einen unstillbaren Durst im wahrsten Sinne des Wortes. Als 20-Jähriger machte er sich im Mai 1895 auf, um die Welt mit dem Fahrrad zu umrunden, wobei er allerdings weite Strecken mit dem Schiff zurücklegte. 1898 veröffentliche er einen Bericht über seine Weltreise, den Hans-Erhard Lessing mit einem Nachwort über die Person Horstmann neu herausgegeben hat. Das erstmals im Jahr 2000 erschienene Buch erlebte innerhalb einiger Jahre mehrere Auflagen, was aufgrund des Informations- und Unterhaltungswertes nicht wirklich überrascht.

Heinrich Horstmann kann zwar nicht unbedingt als ein großes erzählerisches Talent bezeichnet werden; er hat jedoch einen eigenen Erzählstil, den ich einmal als „nassforsch“ bezeichnen möchte und der keine klaren Worte scheut. Horstmann war wohl tatsächlich ein „Draufgänger“. Als Auslöser seiner Reise soll eine Wette gestanden haben, dass er die Welt mit dem Fahrrad umrunden und dabei auch noch als vermögender Mann zurückkehren wird – von der Wette war dann später aber nicht mehr die Rede, auch im Bericht wird sie mit keinem Wort erwähnt.

Horstmanns Bericht konzentriert sich sehr stark auf die USA, seine Reise von Dortmund in die Niederlande, durch Belgien und England nach Liverpool handelt er auf zwei Seiten, die Zeit in England sogar in nur zwei Sätzen ab. Die Schiffspassage fasziniert ihn hingegen sehr und und dient ihm als eigentlicher Auftakt seiner Unternehmung, wie wir es auch aus vielen anderen historischen Radreiseberichten kennen. In Philadelphia angekommen, fuhr er nach New York City und blieb dort sechs Wochen, um sich an die dortigen Verhältnisse anzupassen und die Sprache zu lernen, oder in seinen eigenen Worten, um sich „ein wenig zu veramerikanisieren“. (S. 15) Über Albany und Buffalo radelte er zu den Niagarafällen, von denen er aufgrund „ihrer großartigen und staunenenerregenden Pracht“ begeistert ist. (S. 39) Über Pittsburghh und Cincinatti fuhr Horstmann nach Chicago und suchte unterwegs vor allem Anschluss bei Deutschen und Deutsch-Amerikanern. Dies verband er in aller Regelmäßigkeit mit dem Besuch von von Deutschen betriebenen Gaststätten und dem Besuch von Brauereien, etwa in Cincinatti, dessen Bevölkerung um 1900 400.000 zählte und zur Hälfte deutsch war oder eine deutsche Herkunft hatte. Über seine Aktivitäten in Cincinatti schreibt Horstmann: „Der Besuch und die Besichtigung der Brauereien nahm gerade fünf Tage in Anspruch und ich war bei der letzten wirklich froh, daß nicht noch einige vorhanden waren. Eine fünftägige Bierreise!“ (S. 63)

Horstmanns Reise war, strenggenommen, sogar eine deutlich längere „Bierreise“. (Über den bisweilen sehr engen Zusammenhang zwischen Rad fahren und Bier trinken ließe gut sinnieren, vielleicht kommen wir an dieser Stelle bei Gelegenheit einmal dazu …). Doch der tatendurstige Protagonist berichtet nicht nur über Bier und Brauereien. Als deutscher Amerikareisender blickt er kritisch zum einen sehr kritisch auf auf das Verhalten der US-Amerikaner und erkennt vielerorts vor allem „Geschäftemacherei“. Horstmann verfügt zudem einen scharfen Blick auf deutsche Auswanderer und ihre Anpassung an die amerikanische Gesellschaft; regelmäßig verurteilt er Deutsche, wenn sie sich sprachlich und sozial verändern und erkennt darin eine Art von „Landesverrat“. „Wer nicht selbst in den Vereinigten Staaten gewesen und sich davon überzeugt hat, wird kaum glauben, wie schnell das Deutschtum in Amerikanertum aufgeht.“ (S. 240) So sieht er denn vieles während seiner Reise durch eine „deutsche Brille“ und ist wenig geneigt, diese abzunehmen. Dies trifft im Übrigen auch auf Fahrräder zu. In Chicago kaufte er ein neues Rad, ein Crescent, betont jedoch im gleichen Atemzug: „Die Erbauer dieser Marke sind Deutsche und auch der weitaus größte Teil der des kaufmännischen Personals sowie der Arbeiter – man darf also mit Recht behaupten, das diese amerikanischen Maschinen ein Erzeugnis deutscher Kunst und deutschen Fleißes sind.“ (S. 73)

Von Chicago führte seine weitere Reise nach St. Louis und weiter gen Süden. In Texas plagte ihn die Hitze und mancher „Platten“, entlang der mexikanischen Grenze fuhr er über Los Angeles nach San Francisco, wo seine amerikanische Episode endete. Dort bestieg er abermals ein Dampfschiff und reiste über Hawaii, wo er fünf Wochen verbrachte, Mitte Oktober 1896 nach Japan. Seine knappe Schilderung nutzt Horstmann für ein Kurzportrait des Landes.

Am 22. Januar 1897 trat er seine Heimreise auf der „Hohenzollern“ des Norddeutschen Lloyds an. Über die Zwischenstationen Hongkong, Singapur und Kalkutta ging es durch den Suez-Kanal nach Triest, das Horstmann Ende Mai erreichte. Dort bestieg er wieder sein Rad und fuhr Richtung Norden, gelegentlich begleitet von örtlichen Radfahrvereinen. In München erhielt er eine „herzliche Aufnahme“ und verbrachte dort drei Wochen; über Stuttgart, Frankfurt am Main und erreicht erreichte er dann seine Heimat, „nach 27monatlicher Abwesenheit glücklich zurückgekehrt und zum Weltradler a. D. geworden“. (S. 303)

Heinrich Horstmanns Reisebericht ist informativ und unterhaltsam, was für Antialkoholiker allerdings vermutlich nur bedingt zutreffen wird. Neben den Herausforderungen und Unwägbarkeiten einer Radreise um 1900 charakterisiert er ausführlich, wenn auch recht voreingenommen, die von ihm bereisten die Vereinigten Staaten; über die anderen Stationen berichtet er hingegen nur kurz. Horstmanns Bericht ist ein sportlicher Ehrgeiz anzumerken, der ihn vorantrieb und der im Vorfeld seiner Reise die Grundlagen schuf (so soll er ein sehr guter Kunstradfahrer gewesen sein). Nach seiner Weltreise hatte er auch einige Berührungspunkte mit Hamburg, was an dieser Stelle von gewissem Interesse sein dürfte. „Laut Angabe des Enkels hatte Horstmann ab 1900 für mindestens zehn Jahre ein Fahrradgeschäft in Hamburg, Graumannsweg“, so Hans-Erhard Lessing im Nachwort. (S. 317)

Hamburg, den 19. Juni 2014 / Lars

"Was alles radelt" (1898)

Viel ist um 1900 über die sprunghaft gestiegene Popularität des Radfahrens geschrieben worden. Die Massenproduktion ließ die Preise für Fahrräder sinken und ermöglichte immer mehr Menschen den Kauf eines eigenen „Stahlrosses“. Männer und Frauen, Jung und Alt, Bürgertöchter und Arbeiterjungen schwangen sich aufs Fahrrad und verkürzten ihre Wege und erweiterten ihre Welt. Die neue Vielfalt der Radfahrer und Radfahrerinnen zur Zeit der Jahrhundertwende bringt eine Zeichnung auf den Punkt und visualisiert diese mit einem Augenzwinkern.

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Die Zeichnung des unbekannten Künstler – der Name in der linken unteren Ecke ist zumindest für meine Augen nicht lesbar – erschien erstmals am 11. Februar 1898 auf dem Titelbild der wöchentlichen Sportzeitschrift „Sport im Bild“ und ist mit „Was alles radelt“ untertitelt. Damit führt das Bild die unterschiedlichen Typen des Radfahrers und der Radfahrerin vor Augen und hat einen leicht ironischen Unterton. Neben mehreren sportlichen Radfahrern, anhand ihrer gekrümmten Sitzposition sofort als „Raser“ zu erkennen (einer davon sogar noch auf einem Hochrad), sehen wir „Aufrechtradler“, mehrere Frauen mit unterschiedlicher Körperfülle, einen Jungen und ein Mädchen, beleibte Männer, Pärchen auf dem Tandem, einen Vater mit Sohn auf der Stange, einen Staatsdiener (vermutlich einen Polizisten), eine Dame mit wehendem Rock usw. Kurz: die gesamte Gesellschaft ist auf dem Fahrrad anzutreffen und erfreut sich an diesem beim Sport, im Alltag und verwendet es im Beruf. Die sportliche Haltung mehrerer  Radfahrerinnen und Radfahrer steht für den Boom des Radsports, der sich um 1900 einer ungeheuren Beliebtheit erfreute. Das Rad symbolisierte den Aufbruch in eine neue, „schnellere“ Zeit, in der die Menschen beweglicher sind und selbständig bestimmen können, welche Wege sie zurücklegen. War das Fahrrad noch ein oder zwei Jahrzehnte zuvor ein teures Prestigeobjekt, avancierte es um 1900 zum beliebten Sportgerät und zum Fortbewegungsmittel der Masse. Die Zeichnung „Was alles radelt“ fängt diesen historischen Moment ein und spiegelt die Ausbreitung des Radfahrens fast schon perfekt wider.

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Anzeige im Sport-Album der Rad-Welt (1903), S. 130

Hamburg, den 20. Mai 2014 / Lars A.

Hadersleben – Hamburg

Ein Radrennen in Norddeutschland um 1900

Von Lars Amenda

Hadersleben heißt heute Haderslev, liegt in Süddänemark und befindet sich ca. 60 Kilometer nördlich von Flensburg. Bis zur im Versailler Vertrag festgelegten und 1920 durchgeführten Volksabstimmung über die Grenzziehung zwischen Dänemark und Deutschland gehörte Hadersleben zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein, verfügte aber über eine bedeutende dänische Minderheit. Gregers Nissen urteilte in seinem Radführer „Von Hamburg auf dem Rade nordwärts“ (1897) etwas abfällig, die Stadt habe „ausser der schönen Marienkirche an Sehenswürdigkeiten weiter nichts“ zu bieten. Wieso startete gerade hier das Rennen, das in der Presse auch als „Fern-Radfahrt“ oder „Dauerfahrt“ bezeichnet wurde?

Als Anfang der 1890er Jahre ein regelrechter Boom an langen Straßenradrennen ausbrach (Paris-Boudeaux 1891, Paris-Brest-Paris 1891, Distanzfahrt Wien-Berlin 1892) wollten die norddeutschen Radsportfunktionäre und -verbände mit einem eigenen Radrennen dokumentieren, dass auch im hohen Norden Deutschlands leistungs- und leidensfähige Radsportler leben. Die vier norddeutschen “Gaue"  des Bundes Deutscher Radfahrer (Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg) lobten zusammen 1000 Reichsmark als Preisgeld aus und beschränkten das Teilnehmerfeld auf Radsportler aus den ihren Verbänden. Insgesamt 27 Fahrer meldeten sich zur ersten Ausgabe des Rennens am 9. September 1894, einem Sonntag, um die 250 Kilometer lange Distanz von Hadersleben nach Hamburg zurückzulegen. Die Veranstalter suchten nach einem möglichst nördlich gelegenen Startort und kamen deshalb auf das nahe an der dänischen Grenze gelegene Hadersleben. Die Norddeutschen wollten mit dem Rennen also den Charakter „des Nordens“ betonen, wobei sich Hamburg als überregionales Zentrum als Zielpunkt anbot. Zudem, so meine Vermutung, sprach der Name und der Klang des Rennens, den die Alliteration „Hadersleben – Hamburg“ hat, für Hadersleben als Startpunkt.

Die Strecke verlief über Hadersleben, Apenrade, Flensburg, Schleswig, Rendsburg, Eckernförde, Kiel, Neumünster, Barmstedt, Eidelstedt, und endete an einem Gasthof in der Nähe des Eidelstedter Bahnhofs. Das war für damalige Vorstellungen eine sehr große Entfernung, auch wenn das Rennen bei weitem nicht die Länge der Vorbilder wie Wien-Berlin erreichte. Das Rennen Hadersleben-Hamburg weckte aber dennoch eine große Aufmerksamkeit, insbesondere unter den Radfahrern Hamburgs und Altonas. „Auf der Chaussee nach Eidelstedt“, wie die Altonaer Nachrichten vom 10. September 1894 berichteten, „entwickelte sich gestern Nachmittag ein lebhaftes Treiben. Hunderte von Radfahrern eilten auf ihrem Stahlroß nach dem als Endziel ausersehenen Punkt in der Nähe des Bahnhofs Eidelstedt.“

Christian Andersen aus Kiel, Mitglied des 1887 gegründeten Clubs „Holsatia Kiel“, erreichte als Erster das Ziel, „empfangen von brausendem ‘All Heil'“. Der Sieger benötigte 9 Stunden und 35 Minuten, „eine Leistung, wie sie von Radfahrern bis jetzt nicht erreicht sein soll“, wie die Altonaer Nachrichten überschwänglich und etwas übertrieben jubilierten. Angesichts der schlechten Wege, der eingängigen Fahrräder und widrigen Wetterbedingungen – es regnete beim Start in Hadersleben und auch später in Strömen – war dies durchaus beachtlich; allerdings wurde mit Schrittmachern gefahren, was die Leistung ein wenig erklärlicher macht.

Der Altonaer Bicycle-Club hatte sich ebenfalls für die Teilnahme entschieden und schickte Albert Suhr auf die Strecke. Dieser kam als Zweiter ins Ziel in einer Zeit von 10 Stunden 43 Minuten. Bis auf einen Starter, der unterwegs „marode“ wurde und aus dem Rennen ausstieg, kamen alle Fahrer im Ziel in Eidelstedt an.

Die Erstausgabe von Hadersleben-Hamburg hatte sich als großer Erfolg erwiesen, im folgenden Jahr steigerte sich das Interesse an dem Rennen noch einmal, wenn dem Bericht der Altonaer Nachrichten Glauben geschenkt werden darf: „Mit außerordentlichem Interesse wurde gestern, namentlich in Radfahrerkreisen dem Ausgange des vom Gau veranstalteten Wettfahrens auf der 250 Km. langen Strecke Hadersleben-Hamburg entgegengesehen und eine nach Tausenden zählende Menschenmenge wallfahrtete gestern Nachmittag zu Fuß, per Wagen, per Bahn und per Rad nach dem beim Bahnhof Eidelstedt belegenen [sic] Ziel.“ Der „bekannte Distanzfahrer“ Wilhelm Uren aus Hamburg von der „freien Vereinigung der Einzelfahrer“ siegte bei „schönem Wetter, aber widrigem Winde“ in der Zeit von 9 Stunden und 23 Minuten und unterbot damit die Siegerzeit des Vorjahres („Der Sieger wurde mit nicht endenwollendem Jubel begrüßt.“). Zweiter wurde auch 1895 ein Altonaer Fahrer, allerdings nicht vom ABC, sondern ein gewisser Riecken vom Altonaer Radfahrerverein von 1890.

Für ein Drama sorgte ein schwerer Sturz „wenige Schritte“ vor dem Ziel. Wiegand aus Kiel und sein Schrittmacher Bremer aus Altona wurden von einigen begeisterten Zuschauern zu Fall gebracht: „In der unverantwortlichen Weise hatte ein Theil des Publicums, anstatt die Bahn frei zu halten, sich nach der Mitte des Fahrdamms gedrängt, um die Ankommenden zu sehen. Kein einziger Gendarm war trotz der großen Menschenansammlung am Platze, um die Leute zurückzuhalten.“ Damit bot das Rennen ein Spektakel, gewürzt mit sportlichen Hochleistungen und menschlichen Tragödien, das den kühlen Norddeutschen fast schon südländische Begeisterung entlockte. Die  durch das Fahrrad ungemein gesteigerte Mobilität, die mit Hadersleben-Hamburg plastisch vor Augen geführt wurde, faszinierte die Zuschauer und sicherlich auch manchen Zeitungsleser. Die Tatsache, dass die Teilnehmer kurz hinter der dänischen Grenze gestartet waren und ohne Halt in zehn Stunden bis nach Hamburg fuhren, beflügelte die Phantasie und überstieg bei nicht wenigen die Vorstellungskraft.

Nach den beiden ersten Austragungen scheint das Interesse an Hadersleben-Hamburg dann ein wenig gesunken zu sein. Um 1900 waren für einige Jahre nur noch Fahrer aus dem Gau 1 (Hamburg) startberechtigt, was die Bedeutung des Rennens schmälerte. 1905 öffneten die Veranstalter das Rennen dann wieder für alle Bundesmitglieder. Haertel aus Hamburg gewann in diesem Jahr knapp vor Böhm aus Berlin in einer Zeit von 9 Stunden 59 Minuten und 10 Sekunden. Wieder einmal regnete es reichlich in Norddeutschland, weshalb einige Streckenabsschnitte „unfahrbar“ waren.

Liste der Sieger und ihrer Zeiten aus dem Sport-Album der Rad-Welt (1903), S. 116

Bis ins welche Jahr das Hadersleben-Hamburg ausgetragen wurde, ist nicht ganz klar. In den Jahren nach 1905 schweigen die Altonaer Nachrichten zumindest über die Veranstaltung (wenn sie denn stattgefunden habe sollte). Möglicherweise fand die letzte Ausgabe 1913 statt, bevor der Erste Weltkrieg und die anschließende Gebietsabtretung eine Fortsetzung des Rennens verhinderten. Nach der großen Euphorie der Anfangsjahre verlor Hamburg-Hadersleben jedenfalls an Gewicht. Immerhin hatten die norddeutschen Radsportverbände aber mit dem Rennen auf sich und ihre Fahrer aufmerksam gemacht. Vielleicht war es ja auch schlicht das regelmäßig widrige Wetter und der Dauerregen im September, nicht ganz untypisch für diese Zeit in Norddeutschland, welche einem dauerhaften Erfolg des Rennens in den Augen der Veranstalter (oder der Starter) im Wege standen …

Quellen und Literatur: Altonaer Nachrichten vom 9. und 10.9.1894; Altonaer Nachrichten vom 23. und 26.9.1895; Altonaer Nachrichten vom 20.9.1905; Sport-Album der Rad-Welt (1903).

Hamburg, den 12. Mai 2014 / Lars

Radfahrkarten

“Radfahrkarten. Es scheint vielen Radfahrern noch nicht bekannt zu sein, daß sie selbst wenn sie in Hamburg wohnen, eine Radfahrkarte haben müssen, sobald sie durch Altona radeln. Wiederholt sind in letzter Zeit in Hamburg wohnende Radfahrer, die es unterließen, bei der hiesigen Polizei eine Radfahrkarte zu lösen, nichtsdestonweniger aber durch die Stadt radelten, in Strafe genommen worden.”

Altonaer Nachrichten, Nr. 413 vom 3.9.1905 (Morgen-Ausgabe) 

Mit dem Rad durch Nordafrika (1932)

Rolf Italiaander, Mit dem Rad durch Nordafrika. Erlebnisse eines Neunzehnjährigen, Reutlingen: Enßlin & Laiblin, 1938 (Bunte Bücher, hrsg. von der Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege in Berlin, Bd. 262)

Von Lars Amenda

Der in Leipzig geborene Niederländer Rolf Italiaander (1913-1991) machte als junger Student im Sommer 1932 eine zweimonatige Fahrradtour durch Nordafrika, über die er in dem hier vorgestellten Büchlein berichtet. Italiaander sollte später Schriftsteller und Afrikareisender werden; die frühe Radreise durch Nordafrika bestärkte ihn ganz offensichtlich bezüglich seiner Interessen und seinem weiteren Werdegang. (Das von mir über Fernleihe bezogene, sehr ramponierte und leider mit einem Kopier- und Fotografieverbot versehene Exemplar gehörte während der NS-Zeit zum Bestand der „Reichsschrifttumsstelle der Hitler-Jugend“ und ihrer „Reichsjugendbücherei Berlin“. Dem äußeren Erscheinungsbild scheint es durch viele Hände gewandert zu sein und viele jugendliche Fantasien beflügelt zu haben).

Rolf Italiaander schreibt vor allem für jugendliche Leser und den gesamten Text durchzieht ein jugendlicher, jungenhafter Drang, die heimatlichen Gefilde zu verlassen und die Welt zu entdecken. Wenn wir ihm glauben dürfen, so hatte er die Idee einer Radreise durch Nordafrika ganz spontan und wollte damit seinem Freund Konstantin imponieren, der von ihm als Draufgänger und guter Boxer charakterisiert wird. Italiaanders Eltern gefiel die Idee hingegen weniger gut („Mein Vater tobte.“ S. 4), doch setzte er sich durch und packte nach vorbereitender Lektüre von landeskundlichen Büchern über Afrika am ersten vorlesungsfreien Tag im Sommer 1932 seinen „Affen“, wie er sein Fahrrad nennt. (S. 4)

Von Leipzig radelte er nach Bremen, wo er mit dem Lloyddampfer „Sierra Cordoba“ in See stach; über Villagarcia in Nordspanien, Lissabon, Malaga ging die Reise nach Algier. Italiaander schildert, wie viele andere vor und nach ihm, die Schiffspassage als Auftakt und mentale Vorbereitungsphase der anschließenden Radreise, da er in den angelaufenen Häfen Erkundigungstouren unternahm und hier manche Sehenswürdigkeit entdeckte.

Nach einigen Schwierigkeiten mit dem Zoll in Algier konnte seine Radreise beginnen. Er unterstreicht von Anfang an den fremden Charakter des afrikanischen Kontinents: „Dieser Erdteil ist wirklich so ganz anders als Europa. Und zumal für einen blutjungen Kerl, wie ich es damals war, ist doch Afrika eine Art Wirklichkeit gewordenes Märchenland.“ (S. 7) Er kaufte sich „schnell“ einen Tropenhelm, mit dem er sich nicht nur vor der Sonne schützte, sondern mit dem er sich – wie vor ihm schon der erste Weltradreisende Thomas Stevens – als europäischer Reisender und „Entdecker“ zu erkennen gibt. (S. 9) (Der Tropenhelm als „koloniales Zeichen“ wäre einmal einige Überlegungen wert, falls nicht schon irgendjemand darüber einmal sinniert haben sollte).

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                                     Rolf Italiiaander in Nordafrika

Rolf Italiaanders Radreisebericht ist sehr aufschlussreich, weil er sowohl über die Erfahrung der Fremde und Schwierigkeiten der Kommunikation, aber auch über die vielen positiven Erlebnisse unterwegs berichtet. So betont er die große Gastfreundschaft der Araber, die aber auch ihre Kehrseite für ihn gehabt habe: „Ja, manchmal hatte ich sogar zuviel Freunde. Und Freundschaft ist oftmals sehr anstrengend.“ (S. 11) Er porträtiert die Menschen, die Natur, die Hitze, die wolhtuenden Oasen (wie Biskra in der Nordsahara, dem südlichsten Punkt seiner Tour) auf seinem Weg von Algier nach Tunis. Viele interessante Details gibt Italiaander preis: Niemand konnte ihm beispielsweise im Vorfeld eine Auskunft über die Qualität der Straßen in Nordafrika geben; vor Ort erwiesen sich diese dann für ihn überraschend als recht gut. Er gab insgesamt 400 Reichsmark aus und nächtigte in den Städten meist in günstigen Gasthäusern, auf dem Land hingegen in der Regel unter freien Himmel in seiner Zeltplane. (S. 10)

Italiaander lässt in seinem Bericht immer wieder anklingen, wie er populäre Vorstellungen des Orients während seiner Reise bestätigt sieht. Über die erste von ihm erreichte Oase, El Kantara, schreibt er: „Karl May hätte seine Freude daran gehabt. Hier sah es wirklich so aus, wie er die Oasen verschiedene Male in seinen Abenteuerromanen beschrieben hat. Halbnackte Jungen kletterten wie Affen an den Palmen hinauf, um Datteln zu pflücken. Kleine Mädchen hüteten ihre jüngeren Geschwister, kleine Kinder mit scheußlich dicken Bäuchen und glitzernden Nasenlöchern.“ (S. 19) Ausführlich charakterisiert Italiaander die völlig andere Tierwelt Nordafrikas. Während er der „Höllenmusik“ von Kamelen in Karawansereien nichts abgewinnen kann, ergötzt er sich geradezu am Anblick von Wüstenfüchsen („wirklich entzückende Tiere“). (S. 15)

Am Besten gefiel ihm die Stadt Kostantine, in der Mitte zwischen Algier und Tunis gelegen. In der in Felsen gehauenen Stadt fand er Segnungen der westlichen Moderne wie ein modernes Krankenhaus, Kino und Vertretungen von Automobil-Konzernen; hier vermischte sich für ihn also der fremde Orient und die bekannte westliche Zivilisation. Doch auch negative Erlebnisse hat er zu berichten. Einen Araber, dessen Wunde er mit Jod versorgte, zeigte sich aufgrund der Schmerzen wenig dankbar und jagte ihn fort. Unterwegs bekam er einen „Malariaanfall“ (S. 20), der ihn zwischenzeitlich stark schwächte. Bei einer Abfahrt („Bergabraserei, S. 25) versagte im Dunkeln seine Rücktrittbremse, er konnte die brenzlige Situation mit Glück jedoch meistern. Letzteres gelang ihm auch bei einer Konfrontation mit einem Einheimischen, der ihn auf offener Strecke anbrüllte und ihn, so seine Vermutung, überfallen wollte.

Mit etwas „Heimweh“ erreichte er Tunis und reiste per Schiff nach Sizilien. (S. 28) In Palermo suchte er ein Heim deutscher Schwestern auf und gründete aufgrund akuten Geldmangels mit einigen anderen deutschen „Wanderburschen“ ein „kleines Orchester“, dessen „Dirigent“ er war. (S. 29) „Wir hatten mit unserer Musik einen durchschlagenden Erfolg. Dicke Menschenmauern umstanden uns jedesmal. Jung und alt, arm und reich hörte uns zu und klatschte uns Beifall.“ (S. 29f.) Über Messina und Neapel reiste er weiter per Schiff, um einen Aufenthalt in Rom einzulegen. Hier traf er im Kolosseum „ein paar Hitlerjungen“, mit denen er zusammen durch die Campagna und über die Apenninen nach Ancona mit dem Fahrrad reiste. (S. 31) „Über Venedig, Wien, Prag und Dresden kehrte ich dann wieder nach Leipzig zurück.“ (S. 31)

Sein Freund Konstantin, der ihn vor der Ankunft bereits im Radio über die Erlebnisse seiner Nordafrika-Reise bereits hatte sprechen hören und der ihn indirekt zum waghalsigen Abenteuer angestachelt hatte, begrüßte ihn dann im Leipziger Hauptbahnhof mit einigen „Boxhiebe[n]“. (S. 32)

Rolf Italiaanders Reisebericht atmet geradezu Fernweh und Abenteuerlust und richtet sich gezielt an junge, insbesondere jungenhafte Leser. Der Text vermischt gekonnt ein lässiges Unterstatement mit gängigen, phantastischen Vorstellungen des Orients und dürfte jugendliche Leser seinerzeit schlichtweg gefesselt haben. Dies liegt am erzählerischen Talent des Verfassers, der seine Worte zwischen dokumentarischem und literarischem Charakter schweben lässt. Italiaander schreibt abschießend, und dieser Ton ist recht typisch für ihn: „Wie man inzwischen aus dem Vorstehenden erfahren hat, habe ich in Nordafrika durchaus nichts Außergewöhnliches erlebt. Trotzdem hatte diese Fahrt mich innerlich ziemlich durcheinandergebracht. Ganz überwältigt war ich von den reichen Eindrücken.“ (S. 29)

Bildnachweis: Rolf Italiaander, Mein Fahrrad und ich. Ein frohes Wanderbuch, Leipzig: Wiese, 1935, ohne Seitenzahl.

Hamburg, 5. Mai 2014 / Lars

Mit dem Fahrrad nach Indien - vor fast fünfzig Jahren

Reflexionen und Erfahrungen eines RadlerOldtimers

Von Uwe Lanquillon

Fahrradfahren macht Freude – soviel ist klar und muss an dieser Stelle nicht besonders betont werden.  Auch ich radle  - mit Mitte/Ende Sechzig  - immer noch gern. Außer bergauf. Das ist, ehrlich gesagt, manchmal lästig. Aber alles in allem ist das Fahrrad (auch für mich) beliebt als ein gesundes Sportgerät, als Fortbewegungs- und Transportmittel für mehr oder weniger kurze Strecken, günstig zudem; und Radtouren, Radwanderungen durch Stadt und Natur haben ein gewisses Etwas.

Spannender und abenteuerreicher aber wird es, wenn jemand  - und auch noch allein – das Wagnis einer Fern- oder Weltreise mit dem Fahrrad unternimmt.

Ich bin dieses Wagnis vor nunmehr bald fünfzig Jahren eingegangen. Es war 1968. Meine damalige Radreise führte mich etliche Monate über Österreich und das damalige Jugoslawien den Balkan hinunter, über Bulgarien, die Türkei,  Iran und Pakistan bis an den indischen Subkontinent, nach Karachi.  

Davon und von einigen meiner Erfahrungen und was das in meinem Leben bewirkt hat, will ich berichten.

Radfern- oder Weltreise – warum?
Was war die Motivation für diese meine verrückte Idee, ausgerechnet mit dem Fahrrad loszufahren? Abenteuerlust? Fernweh? Interesse an fremden Ländern, Völkern und Kulturen? Sportlicher Ehrgeiz?
Im Nachhinein kann ich es kaum sagen. Wahrscheinlich war es eine Mixtur aus allem. Dennoch  kam für mich damals noch etwas Wesentliches hinzu, was wohl am ehesten als die Suche eines jungen Menschen nach sich selbst zu beschreiben ist. Ich war gerade mal einundzwanzig (damals wurde man mit einundzwanzig erst volljährig), und ich war keineswegs sicher, welchen Weg mein Leben nehmen sollte. Was lag also näher als die Ferne. Der sichere Job wurde an den Nagel gehängt - und dann ging es los.

Was diese durchaus wagnisreiche Fahrradreise für mich und mein Leben bewirkt hat – davon später mehr.

Vorbilder? Hatte ich Vorbilder, was die Reise betraf?  Ja, die gab es wohl.  Als Kind oder Jugendlicher hatte ich natürlich von fremden Ländern gelesen, weniger Karl May, dafür den Lederstrumpf, Reisebeschreibungen von A.E. Johann, Romy Schurhammer und anderen. Vor allem hatten mich die Bücher und Schulfunkberichte von Heinz Helfgen beeindruckt und gefesselt, der Anfang der Fünfziger Jahre mit dem Fahrrad um die Welt gefahren war.  Gab es diese Welt noch so, wie er von ihr berichtet hatte? Ich startete weniger als zwanzig Jahre später.

Ich will anhand einiger Erfahrungen und Erlebnisse nachvollziehen, was damals (mit mir) geschah. Vielleicht ist das für den einen oder anderen interessant oder hilfreich.

Start und äußere Umstände
Beginnen wir mit dem Naheliegenden, dem Fahrrad. Ich war schon als Nachkriegskind ein fleißiger Radfahrer gewesen, mit dem Fahrrad aufgewachsen, hatte als Jugendlicher Fahrradtouren in Deutschland und England unternommen; hinzu kamen die erwähnten Vorbilder…

Warum also nicht den Radius erweitern, dachte ich. Ich besaß ein ganz normales Tourenrad (Marke habe ich vergessen) mit Naben-Drei-Gangschaltung, relativ wenig Geld, dafür um so mehr Unternehmungsgeist und Zuversicht. Sicherheitshalber hatte ich einige Monate vorher einen Judokurs besucht (Man kann ja nie wissen! Karate war zu der Zeit noch nicht so populär!) und die Hamburger Phoenix Gummiwerke AG sponserte mich, indem sie mich mit Ersatzreifen und – schläuchen und Turnschuhen ausrüstete.   

Dann fuhr ich los, ließ Freunde und natürlich sehr besorgte Eltern hinter mir. (Welche Eltern wären das angesichts eines so verrücktes Planes nicht!); sie hießen meine Pläne nicht gerade für gut, aber als sie merkten, dass es mir Ernst war, unterstützten sie mich nach besten Kräften. Dass sie mich gewähren ließen, mich selbst auszuprobieren und meinen Weg zu finden, das rechne ich ihnen bis heute hoch an!

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                           Der (nachgestellte) Start in Hamburg-Harburg

Noch ein paar Worte dazu:

Ihre Besorgnisse und Ängste waren keineswegs unbegründet oder aus der Luft gegriffen. Ende der Sechziger Jahre war eine politisch ziemlich unruhige Zeit. Es gab den Kalten Krieg zwischen den Weltmächten, es gab den Vietnamkrieg, Krieg im Nahen Osten, es gab Unruhen und Aufstand in der zum Sowjetblock gehörenden Tschechoslowakei, den sogenannten Prager Frühling. Und in der westlichen Welt gab es  innere Unruhen,  Studentenrevolten… Grund zur Beunruhigung gab es also genug.

Dazu kommt: Man muss dazu  wissen, was es hieß, in den damaligen Sechziger Jahren in fremden Ländern als Weltenbummler unterwegs gewesen zu sein. Internet, GPS, Navigation, Skype, Facebook, Laptop oder Netbook, Handy oder Smartphone, Internet-Cafés  – all das, was wir heute weitgehend als selbstverständlich betrachten (auch unter Radtouristen) – all das gab es nicht! Post von meinen Eltern oder von Freunden?  Das ging nur über die jeweiligen Botschaften oder Konsulate in den Hauptstädten. Man war als Weltenbummler auf dem Fahrrad also ziemlich allein und auf sich gestellt - und abgeschnitten.      
Mein Plan war es gewesen, über den Balkan in die Türkei zu gelangen, und von dort aus über Syrien und den Irak weiter in den Iran (Persien)  nach Pakistan und Indien zu gelangen.

Die weltpolitische Lage bekam ich allerdings bald zu spüren.

Das erste Mal in Jugoslawien. 1968 hatte es - wie schon erwähnt - in der kommunistischen Tschechoslowakei eine politische Aufbruchbewegung gegeben, den sogenannten Prager Frühling. Er wurde mit sowjetischen Panzern niedergewalzt. Umliegende Staaten, so auch das „blockfreie“ Jugoslawien waren misstrauisch und wachsam. Ich hatte irgendwo bei Novi Marot (zwischen Varazdin und Zagreb), ohne zu wissen, dass ich nahe militärischem Sperrgebiet war, Landschaftsaufnahmen gemacht – und prompt die Militärpolizei am Hals. Als möglicher Spion verhaftet, wurde ich erst nach stundenlangen Verhören und Entwicklung meines Filmes wieder frei gelassen und konnte weiterfahren.

Als nächstes machte mir die politische Lage einen Strich durch die Rechnung, als ich in der Türkei angekommen war: Ich bekam aufgrund politischer Verhältnisse keine Visa für Syrien und den Irak.   

Syrien und Irak, heute politische Brennpunkte im wahrsten Sinne des Wortes, waren damals bereits Akteure oder Spielbälle politischer Auseinandersetzungen. Wie auch immer, ich musste meine Pläne ändern und den beschwerlicheren Weg über Anatolien nach Persien (Iran) wählen.

Abenteuer in fremden Ländern?
Eines meiner Motive für die Reise war sicher Abenteuerlust, das Erleben  fremder Länder gewesen. Nun war ich in fremden Ländern. Und Abenteuer? Die gab es ohne Frage. Kleine und große.

Allein zu reisen hat mancherlei Vorteil, wie etwa den, dass man auf niemanden Rücksicht nehmen muss. Es gibt allerdings auch Nachteile. Vor allem das Risiko, anderen ausgeliefert sein zu können, ohne dass jemand in gefährlichen oder brenzligen Situationen helfen kann. (Auch heutzutage geschieht viel, wenn man die Nachrichten verfolgt, auch Radtouristen leben mitunter gefährlich).

Es gab Situationen, die durchaus gefährlich waren. Ich glaube allerdings nicht, dass ich irgendwann einer größeren Gefahr oder gar Todesgefahr ausgesetzt war, aber dennoch: manchmal reicht auch weniger, um Schaden für Leib und Leben anzurichten.

Als möglicher Spion verhaftet, wie geschildert, klingt harmlos, aber es hätte anders enden können. Später in der Wüsteneinsamkeit Irans dunklen Gestalten ausgeliefert zu sein, war schon ein anderes Gefühl. Ich war den ganzen Tag geradelt, müde und erschöpft und hatte versucht, eines der Teehäuser zu erreichen, die am Straßenrand Unterschlupf bieten. Es muss zwischen Isfahan und Kerman gewesen sein, so genau weiß ich das nicht mehr. Endlich ein Gebäude. Ich wurde willkommen geheißen. Aber es waren unheimliche Gestalten, wild, bärtig, pockennarbig. Sie wiesen mir eine primitive Bettstelle zu, schlichen durch das Zimmer. Es fiel mir schwer, nicht einzuschlafen. Ich hatte Angst, umgriff im Schlafsack mein Messer und schlief doch irgendwann ein. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, sah ich die Männer im Delirium um ein Feuer sitzen. Ich sprang auf… doch nichts geschah. Sie nahmen mich kaum wahr. So früh wie möglich am nächsten Morgen verließ ich diesen unheimlichen Ort.

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                           Auf dem Weg von Isfahan nach Kerman im Iran

Später, in Pakistan, kurz hinter der Grenze, auf dem Weg Richtung Quetta, radle ich durch einsame, ziemlich karge Gegend. Dennoch fühle ich mich beobachtet. Es ist seltsam, doch ich verdränge meine Angst. Plötzlich höre ich Motorengeräusche, ein Jeep rast hinter mir her. Ich gerate fast in Panik. Der Jeep überholt mich. Es sind uniformierte Soldaten oder Polizisten, die mich stoppen. Frage danach, wer ich sei, woher, wohin und so weiter. Schließlich erklärt einer der Offiziere mir, dass ich mich in einem Rebellengebiet befände. Er würde mich zur nächsten Polizeistation bringen. Also wird das Fahrrad auf den Jeep geladen und ich fahre bequem die wenigen Kilometer bis zur nächsten Provinzstadt.

Das mag heute banal klingen. Oder gefährlich. Es ist in Pakistan heute wahrscheinlich gefährlicher als damals. Wieder ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Welt gewandelt hat. Die Rebellen oder Aufständischen von damals waren vermutlich eher Kämpfer im pakistanisch-indischen Konflikt; heute hätte man es vielleicht mit Al-Kaida oder ähnlichen Gruppen zu tun. Für mich war das also also glimpflich ausgegangen. Es hätte anders kommen können…

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                                     Das Fahrtenmesser, das mit auf Tour war

Körperschäden oder Reifenpanne – ein Albtraum
Glimpflich ausgegangen, das hofft man sich also Radtourist und besonders als Fern- oder Weltreisender besonders gesundheitlich  – und bei Pannen.

Gesundheit oder – negativ ausgedrückt – Kranksein in außereuropäischen Ländern ist ein ernst zu nehmendes Problem (auch für Radfernreisende) und bringt mich auf ein wichtiges Thema: Unfall- und Krankenversicherung. Niemand ist vor Krankheit oder Unfall gefeit.

Ich selbst bin während der monatelangen Reise – bis auf ein paar Kleinigkeiten wie Erkältung  und einmal den Verdacht auf Malaria – gesund geblieben. Dennoch: die Frage nach einer Krankenversicherung für FernRadler ist nicht von der Hand zu weisen.

Meine Eltern, die von meiner Idee, ich sagte es, keineswegs begeistert waren, hatten darauf bestanden, dass ich eine Kranken- und Unfallversicherung abschloss. Ich hatte das damals für überflüssiges „Getue“ abgetan. Inzwischen sehe ich das anders. Natürlich hatten sie recht!

Es ist mir nicht Schlimmes passiert während meiner Reise. Aber es hätte auch anders kommen können. Man kann seiner Phantasie freien Lauf lassen. Ein Sturz vom Fahrrad, ein Zusammenstoß mit einem Lastwagen – ein teures Vergnügen oder ein ruiniertes Leben. Darum kann ich heute nur jedem empfehlen, in dieser Hinsicht nicht leichtsinnig zu sein.

Auch Sachschäden können unangenehm sein. Es gibt deren viele. Reifenpannen zum Beispiel! Gut, wenn’s nur der Schlauch ist, der lässt sich womöglich flicken. Wenn der Mantel hin ist (was selten vorkommt), wird’s schon schwieriger. Aber es gibt auch weiteres wie verbogene Schutzbleche durch Stürze. Oder Rahmenbruch. Vor Letzterem bin ich verschont geblieben. Aber ganz ohne Pannen ging es natürlich nicht.

Die erste Panne erlebte ich schon in Jugoslawien: der Schlauch war nicht mehr reparabel. Wie gut, dass ich einen Ersatzschlauch dabei hatte. Aber später, im persischen (iranischen) Ghom, war auch der zweite hin. Ich hatte Glück. In der Nähe war ein Militärlager, und eine Patrouille half mir. Sie konnten zwar das Fahrrad nicht gleich reparieren, brachten mich aber in das Militärcamp in Ghom. Dort interessierte sich einer der (vermutlich) Offiziere für mich und lud mich als Gast in sein Haus ein. So durfte ich sein Familienleben teilen, mein Fahrrad wurde nicht nur mit einem neuen Schlauch versehen, sondern auch überholt, bevor ich nach einigen Tagen meine Reise fortsetzte.

Einsamkeit /Heimweh
Eine weitere Frage – manchmal vielleicht sogar ein Problem jenseits aller Abenteuerromantik – ist für den Alleinradler oder Weltenbummler die Frage der Einsamkeit, des Heimwehs. Doch, es gibt sie! Auch wenn wir uns das nicht immer eingestehen mögen. Darüber täuschen auch die Kontakte, die wir knüpfen, nicht unbedingt hinweg.

Mein Gott! – war das gut, als ich, nach tagelanger Radelei in der persischen Einsamkeit von einem Motorradfahrer überholt wurde. Ich sah nur von ungefähr sein Kennzeichen: weiß mit schwarzem MZ konnte ich erkennen. Mainz. Deutschland. Ich winkte, er bremste. Und dann stellte sich heraus, dass er auch, wie ich, Hamburger war. Er hatte noch ein Salami aus Deutschland im Gepäck, und die verspeisten wir am Straßenrand, irgendwo in der persischen Wüste. Natürlich ist man in gewisser Weise nicht einsam, wenn man irgendwo in einem Teehaus übernachtet, wenn man durch Dörfer kommt, in dem die Dorfjugend den Radler umringt, als wäre er ein Weltwunder (das war damals so!). Aber die Einsamkeit auf den weiten Strecken kann doch eine Belastung sein. Es gibt Hilfsmittel. Und obwohl ich erst später mit Meditation in Berührung kam, hatte ich damals schon intuitiv einige Techniken angewendet, die mir über Tiefpunkte hinweghalfen; wie z.B. das bewusste Atmen oder das autogene Training, mit dem ich mich schon früher beschäftigt hatte. Diese Techniken helfen ungemein, trübe Gedanken, Depressionen zu vermeiden, die in der Einsamkeit, oder beim Alleinradeln vorkommen können.

Gastfreundschaft
So wahr, wie es ist, dass  Einsamkeit zu einem Problem werden kann, so wahr ist auch, dass Gastfreundschaft in fremden Ländern vieles wieder auffangen kann. Ich habe das während dieser Reise – und auch bei Auslandsaufenthalten in meinem späteren Leben - viele Male erlebt.

Noch heute denke ich mit Freude und auch Dankbarkeit zurück an die Menschen, die mich, einen wildfremden Radler, für sie vielleicht Exoten, aufnahmen.

Die Bauern auf dem Balkan etwa, bei denen ich in Scheunen oder auch Garagen übernachten durfte, und die mich nicht ohne – wenn auch karges – Frühstück weiterziehen ließen. Oder die Studenten in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens, die ich kennengelernt hatte, und die mich (natürlich illegal!) in ihr Studentenheim einschleusten, mir Quartier gaben und mich verpflegten. Oder die Hirten in der anatolischen Hochebene, die mich bewirteten. Auch später, im Iran oder in Pakistan, gab es spontan Bekanntschaften, Einladungen zum Tee, zur Übernachtung. Ich war manchmal überwältigt von der Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht wurde, wie zum Beispiel im persischen Ghom anlässlich der Radpanne, die ich schon erwähnte.

Es geschah nicht selten, dass ich durch Dörfer kam und sofort von der Dorfjugend umringt war. Natürlich war ich der Exot, wurde von Dorfbewohnern zum Tee geladen. Es folgten die üblichen Fragen mit den wenigen Brocken Englisch, die sie sprachen. Aber seltsam genug: Als sie hören, dass ich aus Deutschland, Alman, komme, höre ich plötzlich andere Sprachbrocken: Krupp,  Solingen, Beckenbauer, Rommel.  Oder Hitler. Letztgenannter Name fiel verdächtig oft, was mir jedesmal ein unangenehmes Gefühl bereitete. Doch es kam einmal noch schlimmer,  später in Pakistan. Es war, soweit ich mich erinnere,  bei oder in  Quetta. Ich saß in einem der kleinen Teehäuser und war mit einem Mann ins Gespräch gekommen. Als er erfuhr, dass ich aus Alman/Deutschland war, stand er stramm auf  und grüßte lauthals mit „Heil…“. Gespenstisch. Aber nicht ungewöhnlich in jener Zeit, in jener Gegend. Und heute?

Die Gastfreundschaft war überwältigend, wohin ich auch kam. Selbst dort, wo die Menschen kaum etwas zum Leben hatten. Sie teilten mit mir.  Gelegentlich natürlich, wenn keine Bleibe zu finden war, dann war ich auch mein eigener Gastgeber, in unwirtlichen einsamen Gegenden, in denen ich  mein Zelt aufschlug. Auch das führte zu unvergleichlichen, unaussprechlichen Erfahrungen: ich allein hier unten mir der gestirnte Himmel über mir… Kein Wort kann das beschreiben…

Was bleibt?
Soviel von einigen meiner damaligen Erfahrungen und Erlebnisse.

Meine Reise war nach rund vier Monaten in Karachi zu Ende, ich hatte keine Möglichkeit mehr gesehen weiter zu reisen, vor allem wegen Geldmangels. Wie auch immer – Wochen und Monate der aufregenden, manchmal strapaziösen Reise lagen hinter mir, meist auf dem Fahrrad, manchmal auch andere Transportmittel nutzend. Zeiten der Freude, des Alleinsein, der Begegnungen, der Gastfreundschaft, der Abenteuer.

Was hat diese Reise mit mir gemacht und was ist geblieben?

Natürlich bleibt die Erinnerung. Aber sie verblasst mit der Zeit. Oder verklärt manches, machen wir uns da nichts vor!

Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass ich zunächst und vor allem Selbstständigkeit und Zutrauen zu mir selbst erfahren und gelernt hatte, auch Zutrauen, im Leben Wagnisse einzugehen, sie einzuschätzen.

Dann auch ganz wichtig: Offenheit, Neugier und Empathie anderen, auch fremden Menschen und Kulturen gegenüber. Beides hat mir im späteren Leben, ob auf anderen abenteuerlichen Reisen, Auslandsaufenthalten oder im beruflichen Leben und zuhause sehr geholfen.

So hat meine damalige Radfernreise letztlich in gewisser Weise mein ganzes Leben beeinflusst. Ohne sie wäre ich später vielleicht nicht (aber wer weiß das schon!?) zu anderen Ländern und Kulturen aufgebrochen.

Und damit will ich den Bogen zu heute schlagen.

Obwohl die Welt durch die technischen Möglichkeiten heute kleiner geworden zu sein scheint, obwohl viele der kulturellen Orte heute der „Tourismus-Industrie“ zum Opfer fallen (wie ich kürzlich in Nord-Indien erleben musste), obwohl es mancherlei Vorbehalte gäbe, heutzutage weit zu reisen – ich kann vor allem jungen Leuten nur empfehlen: Fahrt hinaus in die Welt, schaut sie euch an, die Schönheiten dieser Erde, knüpft Kontakte mit Einheimischen, um sie zu verstehen – aber vergesst auch die Probleme nicht. Und vor allem: probiert euch selbst aus, eure Möglichkeiten und Grenzen, eure Erfahrungen, wenn ihr unterwegs seid.

Es kann, aber muss ja nicht unbedingt ein Fahrrad sein (das auch mir heute noch viel Freude bringt).

Aber wenn, dann hier ein Ratschlag, der dem Weltumradler Heinz Helfgen schon damals mitgegeben wurde (und der für alle Radler, Radwanderer und Radfernreisende gleichermaßen gilt):

Vergesst die Luftpumpe nicht! Die für die Reifen und die körpereigene. Denn eine gute Kondition und Lunge sowie Ausdauer braucht man dafür schon.

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                                           Uwe Lanquillon

Streckenverlauf:

Europa: Wien – Zagreb – Sofia – Plovdiv – Türkei: Erdirne – Istanbul – Sivas – Erzurum – Iran: Teheran – Ghom – Isafahan – Kerman – Pakistan: Quetta – Jacobabad – Karachi.

Hamburg, 28. April 2014

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