ZEITFAHREN HAMBURG – BERLIN, 12. Oktober 2013

Wie oft war „man“ schon in Berlin und ist die Strecke von Hamburg und zurück mit der Bahn oder dem Auto gefahren? Ich habe es nicht aufgeschrieben und weiß es deshalb nicht. Mit dem Rad habe ich mich jedenfalls noch nie in die Hauptstadt aufgemacht. So war es für mich im Frühjahr 2013 irgendwann einigermaßen klar, dass ich bei dem „Zeitfahren“ Hamburg – Berlin vom Audax Club Schleswig-Holstein mitfahren möchte. „Zeitfahren“ in Anführungszeichen, weil zwar die Zeit gestoppt wird, aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Start nicht in hautengen Einteilern von einer Rampe herunterrollen und 99,5 Prozent auch keine Zeitfahrhelme tragen. Das Starterfeld mit knapp über 300 Fahrern verteilt sich auf Brevet-Fahrer und ambitioniertere Rennradfahrer, die das Ganze sportlich angehen. Die Strecke ist frei wählbar, nur die Elbbrücken bei Geesthacht und Dömitz müssen überquert werden. Die Veranstaltung – einige nennen es sogar „Event“ – fand 2013 zum 13. Mal statt; am Anfang stand wohl eine Schnapsidee von einigen, zu einer Radsportveranstaltung in Berlin von Hamburg aus mit dem Fahrrad anzureisen. Man sieht also, aus Schnapsideen können innerhalb einiger Jahre Traditionsveranstaltungen werden …

Olli meinte irgendwann, dass er gerne dabei sein möchte. Wir wollten erst auf klassischen Rädern fahren, am Besten auf stählernen Eingangrädern, um so richtig auf dicke (Klassiker-)Hose zu machen. Zum Glück haben wir uns dann aber von der Idee verabschiedet, denn das wäre unser sicherer „Heldentod“ geworden, zwar sehr stil- aber eben auch sehr qualvoll. Sebastian sagte auch zu, der eine oder andere überlegte ebenfalls, Lars B. konnte leider zeitlich nicht, was sehr schade war, hätten wir ihn als „Zugmaschine“ doch gut gebrauchen können. Kurz vor dem Termin konnte Stefan noch nachrücken. So bestand das Team vom Altonaer Bicycle-Club von 1869/80 aus Olli, Sebastian, Stefan und meiner Wenigkeit.

Die Wetterprognosen sahen richtig finster aus. Einige Tage vorher zeichnete sich bereits ab, dass wir bei Dauerregen und Gegenwind bei Windstärke drei die Strecke bewältigen „dürfen“. Das Tief „Xenon“ wütete, wie wir alsbald höchstpersönlich erfahren durften. Von den über 300 gemeldeten Startern erschienen dann auch nur 227; einige hatten es sich wohl anders überlegt, aus welchen Gründen auch immer, aber Xenon sollte uns nicht in die Knie zwingen, oder genauer: in den Betten lassen, da waren wir uns einig. (Xenon ist übrigens ein 1898 entdecktes Edelgas, das eine narkotische Wirkung hat – sollten wir auch bei unserer Fahrt narkotisiert werden …?)

Mit Absprachen, Trainingsplänen und Strategiefragen haben wir uns im Vorfeld nicht groß belastet. Olli und ich machten eine grobe Route und schrieben ein paar Namen von Ortschaften entlang der Elbe auf Papier. Stefan verfügte – zum Glück … – über ein Navi (ohne das wir zwar keinen Heldentod gestorben wären, aber bei der Anfahrt nach Berlin vermutlich auf irgendeinem Parkplatz von irgendeinem Supermarkt oder einer Resterampe hätten notcampieren müssen …).

Die Anfahrt per Rad ab Bergedorf zum Start am Fährhaus Altengamme ging schon einmal richtig gut los. Auf einmal standen wir vorm Zollenspieker Fährhaus – allgemeine große Verwirrung. Links, rechts, hä? … Fährhaus? „Irgendwas stimmt hier nich’“, sagte uns eine immer lauter werdende innere Stimme. Tja, mal kurz verfahren und das um 6.00 Uhr morgens, im Dunkeln und bei Regen – anstatt zehn Kilometer Anreise vom Bahnhof dann `mal eben so rund 25. „Nütscha nix“, wie der Franzose zu sagen pflegt. Es hatte aber schließlich auch einige Vorteile, so waren wir schlagartig etwas wacher und konnten uns schön warmfahren. Also schnell den Deich runter und schon einmal ein Feeling für den Gegenwind kriegen.

„Pünktlich“ kamen wir dann genau zwei Minuten vor unserem terminierten Start um 6:52 Uhr an. Die taktische Besprechung musste deshalb ausfallen – wie alles eigentlich. Dabei war im Fährhaus Frühstück für uns angerichtet … Ich hatte ja aber ein paar leckere Gels und schmackhafte Räuchertofu-Sandwiches (ja doch, glaubt mir bitte …) dabei, weshalb mir das eigentlich egal war.

Um 7.00 Uhr ging das ABC-Team dann auf die Strecke. Es regnete leicht und schnell fanden sich mehrere Fahrer zusammen, mit denen wir eine Gruppe bilden konnten. Bei Geesthacht fuhren wir über die Elbbrücke. Von hinten kamen dann irgendwann ein paar schnelle Jungs und die Gruppe zog etwas an. So fuhren wir im Pulk von ca. 15 Leuten nach einiger Zeit durch heftigen Regen, der immer stärker wurde und sich zu einem wahrhaftigen Starkregen mauserte; es wurde ordentlich, es wurde richtig nass. Wasser von oben und vom Hinterreifen des Vordermannes. Wasser überall. Zum Glück hatte ich mir noch ein „Schutzblech“ aus einer Spiritus-Plasktikflasche „montiert“, was zudem die heiße Optik meines Renners unterstrich.

Wir kamen trotz des bescheidenen Wetters und des konstanten Gegenwindes – der unser treuer Begleiter bleiben sollte – gut voran und machten ordentlich Kilometer. Irgendwann zeichnete es sich dann aber ab, dass die Geschwindigkeit für uns als Team zu hoch war. So mussten einige von uns immer mal wieder abreißen lassen. Wir hatten eine Zeit lang Mühe, ein gemeinsames Tempo zu finden und vor allem über einen längeren Zeitraum zu fahren. Wir waren jedoch als Team angemeldet und wir würden deshalb auch als Team in Berlin ankommen, so war jedoch unser und so war auch mein Standpunkt.

Vor Dömitz fuhren wir auf kleinen, sehr verdreckten Straßen – die Räder sahen aus wie nach einer Schlammschlacht. In Dömitz ging über die Elbe rüber und „um die Ecke“. Hier erreichten wir nach rund 95 Kilometern die erste und einzige Kontrollstelle. Es gab Verpflegung in Form von Wurst- und Käsebrötchen, Müsliriegel, usw. Wasser konnte aufgefüllt und gelassen werden. Wir nutzen die kurze Pause, um uns etwas abzusprechen. Allgemeiner Tenor war, dass wir gleichmäßiger fahren sollten und besser den Windschatten untereinander ausnützen sollten. So war der „Plan“. Wir hatten zwar vorher schon so manches Mal über Fahrräder und Rad fahren ausgiebig diskutiert und philosophiert, aber so „richtig“ zusammen gefahren waren wir bis dato noch nicht.

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Kontroll- und Verpflegungsstelle in Dömitz (Foto: Burkhard Sielaff)

Wir fuhren wir dann bald weiter, um nicht zu sehr abzukühlen. Entlang der Elbe fuhren wir auf einer längeren Deichpassage, die recht eng war, und fanden vorher wieder eine größere Gruppe. Der Regen hörte endlich auf, zu unser großen Überraschung, sagten die Prognosen doch eigentlich Dauerregen voraus. Nach einiger Zeit mussten wir die Gruppe aber wieder ziehen lassen und als Team unsere Geschwindigkeit finden.

Über Wittenberge und Bad Wilsnack pedalierten wir dann Richtung Havelberg. Auf dieser Strecke hatten wir ordentlich Gegenwind und die Region wird von vielen Teilnehmern wegen ihrer Monotonie auf den langen und geraden Alleen nicht unbedingt geliebt. Da ich aber Monotonie durchaus etwas abgewinnen kann, war das nicht wirklich mein Problem.

Unsere Kräfte ließen allmählich etwas nach und in Havelberg machten wir in einem Supermarkt-Café erstmals eine längere Pause von ca. 15 Minuten. Der Kaffee und der Kuchen, die heiße Schokolade taten uns allen ziemlich gut. Zwar war es nicht kalt, aber der ewige Gegenwind zehrte doch recht stark an irgendetwas, nennen wir es Nerven. Wir hatten jetzt einen Großteil der Strecke hinter uns gebracht und waren (mit Pausen) ziemlich genau sieben Stunden unterwegs. Im Supermarkt kauften wir noch Wasser, Apfelsaft und Eistee und wir schwangen uns wieder auf die Räder.

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Verschnaufpause und Verköstigung beim Bäcker in Havelberg!

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Wo der ABC auch ist – nur strahlende Gesichter!

Über Rhinow und Friesack näherten wir uns Berlin. Ich weiß noch genau, dass bei mir bei 197 Kilometern ein kleines „High“ einsetzte. Es machte mir auf einmal noch ein bisschen mehr Spaß zu fahren, gleichmäßig zu treten, den Gegenwind, ähm, „wegzudrücken“ und den wetterbedingten Widrigkeiten zu trotzen. (Hatte mich Xenon etwa narkotisiert?)

Wir trafen jetzt nur noch wenige Zeitfahrer auf der im wahrsten Sinne des Wortes offenen Strecke. Ein Zweiergrüppchen, ein Fahrer und eine Fahrerin, mit der ich auch lange in einer Gruppe beim 400er-Brevet im April 2013 zusammen gefahren bin, holten wir ein und schlossen uns mit ihnen zusammen.

Es zog sich jetzt doch „ein wenig“. Bei Nauen erreichten wir die Bundesstraße 5, die uns nach Berlin bringen sollte (was noch so ca. 60 Kilometer entfernt lag). Wir fuhren brav den Radweg, schließlich wurde die B5 irgendwann zur Kraftfahrstraße und war nicht mehr für Radfahrer freigegeben. Die Radwege waren anstrengend zu fahren, da sie eng waren (und wir uns deshalb nicht mehr so gut gegenseitig vor dem Wind schützen konnten). Zudem waren die Wege immer wieder voller Laub und niemand weiß, was darunter liegt. Es dämmerte jetzt, im Hellen würden wir es nicht mehr schaffen. Zudem verfuhren wir uns trotz Navi und landeten einmal vor einer Einfahrt auf ein Fabrikgelände (oder was das war). Noch einmal irgendwo anhalten. Die letzte Verpflegung herauskramen, etwas Schokolade … und weiter.

Irgendwann bogen wir um eine Ecke und erreichten kurz danach die Berliner Stadtgrenze. Der Berliner Bär begrüßte uns, wir freuten uns, dass wir es bis nach Berlin geschafft hatten. Die letzten Kilometer waren dann aber noch unangenehm, da wir im Dunkeln und bei wieder einsetzendem Regen auf den engen Radwegen vorsichtig rollten. Über die Hauptverkehrsstraße, aus einer geöffneten Heckklappe klatschen uns zwei Leute zu, weit kann es nicht mehr sein. Und tatsächlich: auf der rechten Seite lag es dann, das Horst Kober Sportzentrum, das Ziel (unserer Träume). Runter von den Rädern und ein bisschen umarmen. Wir checkten dann genau um 19:03 Uhr ein brauchten damit ziemlich genau zwölf Stunden inklusive Pausen von Hamburg nach Berlin. Kein neuer Weltrekord, das müssen wir an dieser Stelle zugeben, aber wir waren froh, es unter den erwähnten Umständen gemeinsam geschafft zu haben. Die Tomaten- und Gulaschsuppe tat gut, das Bier schmeckte trotz Plastikbechern hervorragend und wir konnten endlich Ollis Geburtstag gebührend feiern.

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We made it! Kurz nach 19.00 Uhr im Horst Kober Sportzentrum in Berlin.

Bis 21.00 Uhr blieben wir dort machten uns dann frisch geduscht in die Stadt auf. Als wir nach der Ankunft aus unserer privaten Unterkunft in der Kastanienallee vor die Tür traten, goss es wie aus Kübeln. Wir konnten kaum zehn Meter gehen, so stark schüttete es. Zu dritt gingen wir in der Nähe etwas essen (Stefan wurde abgeholt und hatte sich recht bald auf die Heimreise nach Hamburg gemacht). Nach dem Essen herrschte dann allgemeine Müdigkeit. Der ein oder andere soll sich aber noch ins Berliner Nachtleben gestürzt haben …

Hamburg – Berlin. Wir haben es nach rund 280 Kilometern geschafft! Es war eine wirklich sehr gut organisierte Veranstaltung, vielen Dank dafür noch einmal an das Team vom Audax Club Schleswig-Holstein!

Dass das Wetter durchaus Humor haben kann, erfuhren wir dann am folgenden Sonntag. Es herrschte bestes Herbstwetter, die Sonne strahlte und es wehte kaum ein Wind – das wären geradezu ideale Bedingungen für Hamburg – Berlin gewesen. Wir konnten bei unser Rückfahrt mit der Regionalbahn die Fahrt vom Vortag noch einmal Revue passieren lassen, zumal wir in einigen Städten und Ortschaften hielten, die wir mit dem Rad am Vortag in die andere Richtung durchquert hatten.

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Auf dem Rückweg in der Bahn

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Die Spuren der Schlamm-„Schlacht“

Der Altonaer Bicycle-Club wird sicherlich nicht das letzte Mal bei „Hamburg – Berlin“ an den Start gegangen sein und bei zukünftigen Austragungen wieder dabei sein und seine „Visitenkarte“ abgeben …

Hamburg, 9. April 2014 / Lars

(Eine erste Fassung des Berichts stammt vom 17. Oktober 2013).